Auge um Auge
Cannes - "Ich bin überzeugt, dass der Todfeind der Kreativität Sicherheit und das Sich-Einrichten im Geschmackvollen ist“, sagt Nicolas Winding Refn. Aber genau daran ist sein Film „Only God Forgives“ jetzt erstickt: Er hat mit der Sicherheit seines Cineastenerfolgs „Drive“ im Rücken und wieder mit seinem Alter Ego Ryan Gosling gedreht, und sein Film ist an der Stilisierung der Bilder erfroren. Dabei spielt er im feuchtheißen Klima Bangkoks und immer im Rotlicht, das in diesen Bordellen und Karaoke-Restaurants fantastisch kalt wirkt.
Hierhin setzt der Däne Refn eine Geschichte, die an eine griechische Atriden-Familientragödie erinnert, enorm blutig, extrem schuldbeladen, mit einem ordnenden Gott in Form eines Polizisten, der rächend Gerechtigkeit herstellt – samurai-artig mit einem Schwert. Gosling spielt einen Geschäftsmann mit käuflichem, perversen Sex, Drogenhandel und Thaibox-Hallen. Als seine Mutter (Kristin Scott Thomas als eiskalte Unterwelts-Patin, eine Art brutal-dominante Donatella-Versace-Medea) nach dem Auge-um-Auge-Prinzip Blut für seinen ermordeten Bruder fordert, spielt die Gosling-Figur nicht blindlings mit, sondern wandelt wie ein Gespenst mit leerem Blick durch das blutige Sündenbabel und lässt sich wie ein Opferwolf für eigene Sünden zurichten. Man sieht pervertierte Pietà-Anspielungen, aus dem Dunklen leuchtende, immer nächtliche, stilisierte Innenräume und spürt als Zuschauer: nichts!
Der Film wurde in der Pressevorführung ausgebuht. Und dennoch ist er ein wunderbares Beispiel für den Zustand des internationalen Filmgeschäfts, wofür Cannes beansprucht, ein Spiegel und Gradmesser zu sein.
Denn diese dänische Produktion stößt genau in die Lücke, die Hollywood aus Feigheit aufmacht und worauf Steven Soderbergh als Independent-Regisseur keine Lust mehr hat: die Blockbusterfixierung Hollywoods, der erstickende Vermarktungswahn und eine Mutlosigkeit, die letztlich kreativer Selbstmord sei. So hat Soderbergh es hier formuliert und hinzugefügt: „Ich beklage mich aber nicht.“
Und Film-Mogul Harvey Weinstein hat die wunderbare, merkwürdige Lösung: „Europa darf nicht wie die USA werden“, sagte er und hat für uns Europäer die Filmkunst reserviert. Und die drehen deshalb gleich mal auf Englisch, wie der Däne Refn mit Ryan Gosling oder der Franzose Desplechin mit Benicio del Toro als Schwarzfußindianer („Jimmy P.“).
Aber ein paar Independent-Regisseure haben die USA hier doch noch im Köcher für den Wettbewerb: Jim Jarmusch, Alexander Payne und James Gray, der mit Marion Cotillard und Joaquin Phoenix gedreht hat. Roman Polanski lässt man den französischen Schlussakkord am Samstag setzen.
Aber natürlich haben die Goldene Palmen-Wetten bereits begonnen – mit guten Quoten François Ozons Film „Jeune et jolie“ und „Die Vergangenheit“ des Iraners Asghar Farhadi, beide französische Produktionen, was die Chance steigen lässt, dass vielleicht Michael Douglas, auch als Krebsbesieger und Freund von Jurypräsident Spielberg, den Darstellerpreis für seine schwule Glitzerfigur Liberace in „Behind the Candelabra“ bekommt. Aber noch sind ja sechs von zwanzig Wettbewerbsfilmen nicht gesichtet.
- Themen:
- Michael Douglas