Kritik

Aufruf zum Handeln: "Green Border"

Agniezka Holland gelingt der beste und ergreifendste Film zum Thema Migration
Adrian Prechtel |
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Mit seiner Tochter an der EU-Außengrenze gestrandet und zwischen die Fronten gekommen: Jalal Altawil in "Greeen Border"
Agata Kubis Mit seiner Tochter an der EU-Außengrenze gestrandet und zwischen die Fronten gekommen: Jalal Altawil in "Greeen Border"

"Grüne Grenze" ist natürlich ein zynischer Titel. Denn im Allgemeinen meint das eine Grenze, die einfach passierbar ist. Auf Polnisch heißt aber auch die sumpfreiche Wald- und Wiesengrenze zwischen Polen und Weißrussland so. Hier schildert Regisseurin Agniezka Holland den Wahnsinn, den Flüchtlinge erlebt haben, immer noch erleben - oder nicht überlebt haben: Die EU macht dicht.

Die Figuren sind bürgerlich: also nah an uns dran

Eine Familie wird mit anderen Migranten von Minsk an die Grenze gebracht und nachts durch die Stacheldrahtzone in die EU gestoßen. Polnische Grenztruppen, drücken, zerren sie noch nachts zurück. In Regen, Kälte und im Niemandsland dreht sich eine Abwärtsspirale - vom Handyverlust, komplett abgenommenen Dollar und Euro, über lebensgefährliche Erkältungen, bis hin zum Erfrieren. Und damit die Identifikation mit uns Zuschauern besser funktioniert, sind die Fliehenden sehr bürgerlich: die Afghanin und eine syrische Familie.

Keine einseitige Erzählung

Man erlebt auch, wie Grenzsoldaten, die psychisch für diesen Einsatz gar nicht vorbereitet sind, gegen alle Abkommen und Menschlichkeit indoktriniert werden. Es ist dieser Akt der Entmenschlichung, der Hemmungen Schritt für Schritt aufheben soll. Das Gegenüber ist dann nur noch Bedrohung oder Parasit, was unterstützt wird durch die zunehmende Verelendung. Aber Holland ist zu klug, um all das einseitig zu erzählen: Wir erleben auch einen jungen Grenzsoldaten mit schwangerer Frau zu Hause, der nur seinen Dienst machen will, loyal zum Staat, durchaus human eingestellt, aber dann immer mehr die illegale "Drecksarbeit" europäischer Migrationspolitik machen muss - was ihn moralisch deformiert und er nicht mehr aushält. Wir erleben ihn später wieder humanitär eingesetzt, als nach dem russischen Angriff die Fluchtbewegung aus der Ukraine einsetzt.

Im Angesicht der humanitären Katastrophe: Handeln!

Und wir erleben auch, wie Menschen in der Begegnung mit der humanitären Katastrophe einfach handeln und viel riskieren: Flüchtlinge in der verbotenen Grenzsperrzone mit Essen versorgen, Ärzte und Krankenschwestern, die - wie Ärzte ohne Grenzen - versuchen, sie zu behandeln, zu retten. Sie werden selbst Ziel staatlicher Repression.

Pflichtfilm für alle Europäer und große Kinokunst

All das wird in allen Facetten eines Spielfilms gezeigt, der beklemmend nah an einem Dokumentarfilm ist. Und vielleicht hat Holland den Film auch deshalb in Schwarzweiß gedreht, weil Farben lügen können.

Eigentlich wäre "Green Border" ein Pflichtfilm für alle Europäer, ehe man Urteile zum Thema Migration und Flucht fällt. Und wer sich darauf einlässt, erlebt große Filmkunst, die ohne künstliche Dramatisierung auskommt, aber mit einem unfassbaren Gespür den Zuschauer unter Spannung, ja Anspannung hält. Am Ende ist man nicht erschöpft, sondern extrem aufgewühlt - und das setzt Energien frei, in diesem Fall ganz sicher für eine humanere Zukunft.

K: ABC, City und Monopol (OmU)
R: Agniezka Holland (PL,F, 149 Min.)

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