Auf der Suche nach dem spürbaren Leben

Woody Allen rechnet in „Blue Jasmine“ brillant mit der Oberschicht ab
von  Adrian Prechtel

Woody Allen schwelgt – bei aller Ironie – gerne im Dolce Vita der Upper Class, hat sie oft mit Intellektualität gewürzt und mit Neurosen charmant gemacht. Jetzt aber verpasst er den konservativen, marktliberalen und Zuviel-Staat!-paranoiden Reichen eine Ohrfeige, zeigt sie als Hochstapler, die sich kalt wie die Eiswürfel in ihren Cocktails an ihrem unverschämten Wohlstand selbstgefällig aufgeilen. Und Cate Blanchett spielt radikal und Oscar-verdächtig eine Superreichen-Zicke, die den Abstieg nicht verkraftet.

Sie ist ein „Material Girl“, das borniert „Wir haben es (uns) verdient“-Phrasen drischt, obwohl ihr Blender-Mann (Alec Baldwin) ein Investment-Berater ist, der mit unseriösen Renditeversprechen so an die Gier appelliert, dass letztlich die Handschellen klicken, die Platin-Kreditkarten eingezogen werden, das 5th-Avenue-Kartenhaus und die Ehe zusammenfallen. Sogar ihren Sohn leugnet sie, als er sich nicht mehr ins Gewinnerbild einfügen will.

Jetzt ist Jasmine eine Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs – hysterisch überreizt, unverbesserlich versnobt und so alkoholisiert und mit Psychotabletten vollgepumpt, dass sie Realitätsverlust erleidet. Man erlebt eine Frau, die – von Pilates und Yoga ver- und nur Konsum gewöhnt – plötzlich verzweifelt nach „etwas Substanziellem“ sucht, aber in ihrer Arroganz das spürbare Leben weder zulassen noch erleben kann.

Das unterbewusst doch schlechte Gewissen der Superreichen pariert sie mit Phrasen wie „Mit Geld wächst auch die Verantwortung“ – was nur Charity-Aktivitäten meint, die letztlich selbstbeweihräuchernde Alibi-Veranstaltungen einer völlig abgehobenen Welt sind. „Leistung soll sich wieder lohnen“, wird proklamiert, während Jasmine selbst das College abbrach, nachdem sie sich einen Millionär geangelt hatte.

Jasmine wird mit ihrer naiv-sympathisch-menschlichen „Verlierer“-Schwester (Sally Hawkins) konfrontiert, in San Francisco, der „europäischsten Stadt“, wie es im Film heißt. Mit der Schwester baut Allen eine Gegenwelt auf, hier auch mit viel Witz: Die handfesten Typen sind etwas prollig, haben aber Spaß – mit Bier und Sport-Übertragungen. Sie haben Sex und bei aller Unbildung noch ehrliche Gefühle, während jene, die auf sie herabschauen, sich in Status-Symbol-Posen verlieren und in betrügerischer Falschheit erstarrt sind.

Woody Allen hat sich zuletzt – erfolgreich in „Midnight in Paris“ und oberflächlich in „To Rome with Love“ – vor allem als Stadt-Romantiker betätigt. Jetzt rechnet er mit den Neu-, Spekulations- und Finanzmarkt-Reichen seiner Lieblingsstadt New York ab, und das noch viel härter als 2005 mit der Londoner Oberschicht in „Match Point“.

Seine neue Wut, die nie ideologisch oder gar klassenkämpferisch ist, hat ihm gut getan: „Blue Jasmine“ ist intelligent, scharf, analytisch, unsentimental und gerade dabei von einer durchschlagenden Wirkung!

Kino: Arri, Astor, Eldorado, Gloria, Leopold, Rio, Kino Solln; City und Studio Isabella (OmU), Cinema in OF; B&R: Woody Allen (USA, 98 Min.)

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