Kritik

"A Complete Unknown": Das Rätsel Dylan bleibt im Kino ungelöst

Timothée Chalamet macht als Bob Dylan James Mangolds Biopic "A Complete Unknown" zum Kinoereignis.
von  Dominik Petzold
Mitte der 60er Jahre ist Bob Dylan (Timothée Chalamet) schon eine Legende. Aber er will die Rolle nicht spielen
Mitte der 60er Jahre ist Bob Dylan (Timothée Chalamet) schon eine Legende. Aber er will die Rolle nicht spielen © Macall Polay/Searchlight Picture

Joan Baez ist sauer. Gerade noch lag Bob Dylan in ihrem Bett, in ihrem Zimmer im Chelsea Hotel, in das er sich mitten in der Nacht selbst eingeladen hatte. Sie döst noch nackt in den Laken, aber ihr On-Off-Geliebter sitzt jetzt mit Gitarre am Schreibtisch und tüftelt an einem neuen Song. Will er sie demütigen, indem er ihr vorführt, wie ihm die genialen Zeilen – anders als ihr – einfach so zufliegen? "He not busy being born is busy dying", kritzelt er noch aufs Papier, dann schmeißt sie ihn wütend raus.

Dylan ist ein Genie – sympathisch ist er nicht 

Wer nicht ständig neu geboren wird, ist schon am Sterben: Ungefähr so könnte man diese Zeile aus "It's Alright Ma (I'm Only Bleeding)" von 1965 übersetzen, und sie bringt auf den Punkt, was Regisseur James Mangold in seinem Biopic über Bob Dylan erzählt. Er zeichnet das Porträt des Künstlers als junger Mann, der immer auf der Suche ist nach dem nächsten Song, ja mehr noch: der nächsten künstlerischen Geburt.

Und dabei nimmt er keine Rücksichten: nicht auf Geliebte wie Joan Baez, nicht auf Freunde und Förderer, nicht aufs Publikum, nicht auf die eigene Popularität. Am Ende des Films brüskiert er seinen Mentor Pete Seeger und die versammelte Folk-Szene auf dem Newport Folk Festival: In den Jahren zuvor wurde er hier als Folk-Messias bejubelt, doch 1965 spielt er vor vielen buhenden Zuschauern mit einer Rockband.

Timothée Chalamet als Bob Dylan und Monica Barbaro als Joan Baez
Timothée Chalamet als Bob Dylan und Monica Barbaro als Joan Baez © Searchlight Pictures

Der Folkstar darf kein Rocker werden 

Mangolds "Like A Complete Unknown" bezieht sich auf Elijah Walds Sachbuch "Dylan Goes Electric!", und um den legendären elektrifizierten Auftritt in Newport ist der Film dramaturgisch aufgebaut: Der vermeintliche Verrat an der Folk-Szene ist von Beginn an angelegt. Da nimmt Pete Seeger den jungen Dylan 1961 unter seine Fittiche, gibt dem Tramp aus Minnesota ein Obdach in seinem schönen Holzhaus, und auf der Fahrt dorthin dreht Dylan am Knopf von Seegers Autoradio und findet zu seiner Freude einen Sender, der Little Richard spielt. "Ein guter Song braucht keine Verzierungen", doziert Seeger, während Dylan Rock'n'Roll hört.

Doch fürs Erste spielt er pure, schnörkellose Folk Music und wird damit im New Yorker Greenwich Village schnell zur Sensation. Als Seeger ihn erstmals in einem Club auf die Bühne holt, sind gleich alle im Raum, die für Bobs Karrierestart wichtig werden sollen: Joan Baez, die Königin des Folk, sein künftiger Manager Albert Grossman, Platten-Produzent John Hammond und Journalist Robert Shelton, der 1961 in der "New York Times" einen enthusiastischen Artikel schreibt, der Dylan enorm hilft.

Was für ein schlauer Kniff: Die wunderbare Szene verdichtet die reale Geschichte so stark, dass spießige Fragen nach historischer Exaktheit sinnlos werden. Und so schiebt der Film dann auch manche Episoden quer durch die frühen Jahre, singt Dylan etwa beim Newport Folk Festival 1964 einen "neuen Song" namens "The Times They Are A-Changin'": Dabei war der aus dem Vorjahr, und gesungen hat er ihn in Newport auch nicht. Genau dieses Verschmitzt-Verspielte trifft den Geist des ewigen Geschichtenerzählers Bob Dylan.

Bob Dylan (Timothée Chalamet) braucht nur 2 Alben, um zum Star der Folkszene zu werden.
Bob Dylan (Timothée Chalamet) braucht nur 2 Alben, um zum Star der Folkszene zu werden. © Searchlight

Der verrät – im Film wie im echten Leben – niemandem in New York, dass er in einer Mittelschichtfamilie in Minnesota behütet aufgewachsen ist, sondern fabuliert, dass er mit dem Jahrmarkt übers Land gezogen ist. Oder mit dem Zirkus. Das erzählt er den Geliebten, zwischen denen er munter hin- und herspringt: Joan Baez (Monica Barbaro) und Sylvie Russo (Elle Fanning), die der realen Suze Rotolo nachempfunden ist. Sie rät ihm, nicht alte Folks-Traditionals über die Dust Bowl zu singen, sondern über ihre eigenen dramatischen Zeiten, die Jahre der Bürgerrechtsbewegung und des Kalten Krieges.

Timothée Chalamet ist als Dylan phänomenal

So singt er dann "A Hard Rain's A-Gonna Fall", "Blowin' In The Wind" und, in der Nacht der Kubakrise im Gaslight Cafe, "Masters Of War", und sein Aufstieg ist unaufhaltsam. Dabei zuzusehen ist ein großes Vergnügen. Das liegt an der liebevollen, üppigen Ausstattung, die das untergegangene Greenwich Village lebendig werden lässt, an den wunderbaren Bildern, vor allem aber an dem grandiosen Hauptdarsteller Timothée Chalamet.

Er imitiert Dylans Körpersprache bis ins letzte Detail perfekt. Er singt selbst und trifft den Geist der Lieder, er bewegt die Finger richtig auf dem Griffbrett – fünf Gitarren-Coaches waren im Einsatz. Und vor allem bringt er ein umwerfendes Charisma auf die Leinwand. Als der blutjunge Dylan zu Beginn am Krankenbett seines Idols Woody Guthrie ein Lied singt, erkennt man in seinen Augen ein bisschen Schüchternheit, ein bisschen Beklommenheit, mehr noch aber ein keckes Selbstbewusstein – und das alles in ein und demselben Moment. Den wichtigen Screen Actors Guild Award hat Chalamet schon bekommen, er ist auch Favorit für den Oscar – und kaum jemand dürfte die Auszeichnung jemals mehr verdient haben.

"Du bist ein ziemliches Arschloch, Bob", sagt Joan Baez 

Edward Norton ist als grundgütiger Pete Seeger ebenfalls fantastisch, und Joan Baez dürfte stolz sein, wenn sie sich in Monica Barbaro verkörpert sieht: so zauberhaft singend, so strahlend, aber auch so tough. "Du bist ein ziemliches Arschloch, Bob", sagt sie, nachdem er ihre Songs mit Gemälden in Zahnarztpraxen vergleicht. "Stimmt wohl", sagt er.

Und tatsächlich wird Dylan nicht besonders sympathisch gezeichnet. Sondern als reservierter, wortkarger, übercooler, manchmal herablassender Hipster, sehr ähnlich der öffentlichen Person, als die sich Dylan in den Sechzigern inszeniert hat – er war übrigens über seinen jahrzehntelangen Manager Jeff Rosen an der Produktion des Films beteiligt.

Bob Dylan (Timothée Chalamet) spielt mit seinem Mentor Pete Seeger (Edward Norton).
Bob Dylan (Timothée Chalamet) spielt mit seinem Mentor Pete Seeger (Edward Norton). © Searchlight Pictures

Diese Figur ist faszinierend anzusehen, und doch setzt sie der erzählerischen Kraft des Films auch eine Grenze. Denn Dylan bleibt für den Zuschauer, was der Originaltitel des Films so perfekt auf den Punkt bringt: "A Complete Unknown". Was diesen jungen Mann antreibt, was ihn bewegt: unklar. Der erste Tantiemen-Scheck über 10.000 Dollar entlockt ihm nur ein kurzes Lächeln. Den Ruhm hasst er, mehr noch die Schulterklopfer und alle, die ihn vereinnahmen wollen. Der Künstler leidet zunehmend, aber der Zuschauer kann schwerlich mitleiden, zu rätselhaft, zu verschlossen bleibt dieser Bob.

"A Complete Unknown": Film überwältigt den Zuschauer nicht

Und am Ende überwältigt der Film den Zuschauer nicht. Dafür gibt sein Höhe- und Zielpunkt, das Newport Folk Festival 1965, dramaturgisch zu wenig her. Denn ob Dylan nun die akustische oder die E-Gitarre ergreift, die ihm hingehalten wird: Das ist nicht gerade eine Frage von Leben und Tod, von Sein oder Nicht-Sein.

Regisseur James Mangold hat mit "Walk The Line" schon ein Biopic über Johnny Cash gedreht, dessen Leben all das bot, was man sich für einen Film wünschen kann: eine gebrochene Figur, einen existenziellen Konflikt, eine große Liebesgeschichte. Das alles gibt die Dylan-Story nicht her, und so erreicht "Like A Complete Unknown" nicht ganz die gleiche Wucht.

Toll ist der Film dennoch, viele Szenen, Bilder und Dialoge sind der reine Genuss, und ebenso das wichtigste: die Musik. Die ist selten in einem Film so wunderbar inszeniert worden wie hier. Zum Beispiel, als Joan Baez und ihr On-Off-Geliebter in Newport "It Ain't Me, Babe" singen. Sie hat diesen Abschiedssong gewählt, "fuck off and sing", sagt sie davor zu ihm. Doch dann verschwindet aller Zorn hinter zauberhaften Harmonien.


R: James Mangold (USA, 140 Min.);
K: Astor, Cinema (OV) City Atelier (auch OmU), Leopold (auch OmU), Mathäser (auch OmU), Monopol (OmenglU), Royal

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.