Kino: Wo die wilden Kerle wohnen

Kein Family-Entertainment, sondern ein Film, der sich produktiv mit kindlichen Ängsten und Fantasien auseinandersetzt: "Wo die wilden Kerle wohnen".
von  Abendzeitung

Kein Family-Entertainment, sondern ein Film, der sich produktiv mit kindlichen Ängsten und Fantasien auseinandersetzt: "Wo die wilden Kerle wohnen".

“Du bist außer Kontrolle" sagt die Mutter zu Max, als der Junge besinnungslos im Wolfkostüm durchs Haus tobt. Es ist eine rasante Fahrt, die Regisseur Spike Jonze in "Wo die wilden Kerle wohnen" in den ersten zehn Minuten unternimmt. Die Kamera bleibt stets auf Augenhöhe zu dem Jungen, schlüpft in seine Haut, verfolgt ihn mit schnellen Schwenk- und Zoombewegungen und stürmt nach dem Streit mit der Mutter gemeinsam mit ihm hinaus in die winterliche Nacht. Von der ersten Minute an lässt Jonze keinen Zweifel daran, dass er sich ganz und gar der kindlichen Subjektivität verschreibt.

Gerade einmal 338 Wörter umfasst Maurice Sendaks "Wo die wilden Kerle wohnen". Das 1963 erschienene Kinderbilderbuch, das sich auf einer Traum- und Symbolebene mit den dunklen Seiten der kindlichen Seele beschäftigt, gehört auch heute noch zum Standardbestand in Kinderzimmern und therapeutischen Praxen. Schrecklich sehen die riesigen Monster aus, die Max in seiner Fantasiewelt trifft, aber auch irgendwie kuschelig und unbeholfen in ihren zerstörerischen Bewegungen.

Anfangs drohen sie noch den Jungen zu fressen, aber dann machen sie ihn zu ihrem König. Der erste Befehl des neuen Herrschers lautet "Herumtoben" und mit Max haben die melancholischen Ungeheuer endlich wieder Spaß. Aber bald merkt Max, dass er den Ansprüchen, die von den neurotischen und zerstrittenen Monstern an ihn als Herrscher gestellt werden, nicht gerecht wird. Tief hinein segelt Jonze in die kindliche Fantasiewelt, bebildert sie mit ebenso unheimlichen wie wunderschönen Naturkulissen, in die sich die liebenswerten Ungeheuer nahtlos einfügen. Dass es in der Seele eines Kindes nicht immer harmonisch zugeht, sondern widerstrebende Gefühle wie Angst und Allmacht, Glück und Melancholie, Aggression und die Sehnsucht nach Geborgenheit Platz haben - darauf lässt sich Jonzes poesievoller Film vorbehaltlos ein.

Als König der wilden Kerle wiederum schlüpft Max auch in die Rolle des Erziehungsberechtigten und findet sich plötzlich auf der anderen Seite des selbst erlebten Elternkonfliktes wieder. Beim Start in den USA hat der Film die Kritik gespalten. Genau wie beim Erscheinen des Buches wurde auch hier vor einer Traumatisierung des jungen Publikums gewarnt. Das ist vielleicht übertrieben, aber richtig ist, dass man sein Kind mit diesem Film nicht allein lassen sollte. "Wo die wilden Kerle wohnen" ist kein Family-Entertainment, sondern ein Film, der sich produktiv mit kindlichen Ängsten und Fantasien auseinandersetzt - eine interessante Auseinandersetzung, zu der die Eltern unbedingt mit eingeladen sind.

Martin Schwickert

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