"Wenn der sexuelle Akt ein Punkt ist, ist der Kuss ein Komma. Eine Atempause im Satz“, sagt Alexandre Lacroix analytisch poetisch: Der Schöne mit den stahlblauen Augen kennt sich beim Küssen aus – er ist Franzose, genauer Pariser – und Philosoph.
AZ: Bonjour, Monsieur Lacroix. Wenn die Welt ans Küssen denkt, fällt ihr schnell Frankreich als Kulisse ein. Und die Amis nennen den Zungenkuss „French Kiss“. Sind Sie als Franzose Kussexperte durch Geburt?
ALEXANDRE LACROIX: Der Kuss ist ein Teil unserer Geschichte. Laut Befragung wird in Frankreich weltweit am meisten geküsst. Franzosen küssen sich im Schnitt sieben Mal pro Tag. In Japan liegt statistisch der Durchschnitt bei einem halben Kuss. Aber wer kennt schon die Realität? Aber natürlich haben wir in Frankreich gute Gründe, uns oft zu küssen. Kulturell können wir uns dabei von unserer besten Seite zeigen.
Warum führt Frankreich stolz die Kuss-Statistik an?
Unsere Kultur geht mit dem Kuss freizügiger um: Erstens gibt es seit dem Ende des Mittelalters beeindruckende französische
Literatur – wie von François Villon. Wir hatten schon sehr früh viele Gedichte über den Kuss. Später gab es Größen wie Jean-Jacques Rousseau oder Marquis de Sade mit ihren wichtigen Theorien und Schriften. Zweitens die Bildende Kunst: Wir haben berühmte Plastiken und Bilder, wie „Der Kuss“ von Rodin oder die Schwarz-Weiß-Fotografie von Robert Doisneau „Baiser de l’Hotel de Ville“, der Kuss vor dem Pariser Rathaus. Aber küssen ist natürlich nicht nur eine französische Sache. Der Kuss basiert auf römischem und katholischem Brauchtum.
Aber die römisch-katholische Kirche ist doch sexualmoralisch eher rigide!
Für die Römer war der Kuss eine genaue Kodifizierung. Er stand im Zentrum der römischen Erotik und unterschied sich in drei Arten. Die erste Variante war das „basium“ – der Lippenkontakt ohne Einführung der Zunge, vor allem zwischen Mitgliedern einer Familie. Das „osculum“ durften Paare, Mitglieder der gleichen Körperschaft oder des gleichen sozialen Standes miteinander tauschen. Dann wurde auch das „suavium“ populär, der schmachtende, laszive Kuss mit offenem Mund. In der katholischen Kirche küsst man – entsexualisiert – weiterhin als Zeichen des Respekts den Maulesel des Papstes, die Ringe der Bischöfe oder die Reliquien der Heiligen.
Alle Menschen küssen sich auf der Welt, trotzdem wird mit dem Kuss in den verschiedenen Kulturen anders umgegangen.
Ja, es gibt Länder mit starker Zurückhaltung. Trotzdem küssen sich heute alle Menschen auf allen fünf Kontinenten. Das war aber nicht immer so. Tatsächlich ist das weltweite Küssen recht jung in der Geschichte, nämlich seit es seit rund 70 Jahren die großen Hollywood-Filme gibt. Die Film-industrie hat die Öffentlichkeit provoziert. Der Kuss wurde global zum Symbol der Liebe.
Aber nicht unbedingt für Sex.
Bei Prostituierte ist küssen meistens nicht drin – oder es kostet sehr viel extra. Steht ein Kuss noch über dem sexuellen Akt?
Ich habe eine sehr persönliche Meinung dazu, allerdings ohne Studien oder Belege. Und es ist eine historische Erklärung. In der römischen Zeit, wo das Küssen eine besondere Bedeutung bekam, war es komplett untersagt, einen Sklaven zu küssen. Es war verboten, weil der Kuss an die soziale Gleichstellung geknüpft war. Später in den USA wurden Sklaven als „Neger“ beschimpft. Der Protest der Schwarzen dagegen war: „Ihr sagt, wir sind Neger, aber wir bewahren uns unsere Würde.“ Für mich haben die Prostituierte diese Haltung übernommen und daraus einen eigenen Protest entwickelt. Das Kuss-Verbot ist ein Zeichen der Gegenwehr. Sie haben die Verachtung umgedreht, nach dem Motto: „Du hast in meinen Augen nicht meinen Wert! Du, Klient, möchtest es haben? Aber genau das bekommst du nicht!“
In Ihrem Essay „Kleiner Versuch über das Küssen“ grenzen Sie den Kuss deutlich vom sexuellen Verlangen ab, um dann doch den Übergang zu schaffen.
Wir befinden uns in einem stark pornographischen Zeitalter. Das hat sicher seine Berechtigung, ist für mich jedoch Anlass gewesen, diesen Essay stark auf die Geschichte und Bedeutung der Küsse zu beziehen. Im Vergleich zum koitalen Keuchen ist der Kuss wie eine kleine Nacht-Kammermusik. Die Sexualität hat biologische Ursachen, sie ist für uns Menschen überlebenswichtig. Der Kuss nicht! Weshalb er kulturell und weiter gefasst untersucht werden muss. Es ist erstaunlich, dass es zu allen Arten der Perversion Literatur gibt. Über den Kuss gibt es keine Wissenschaft, keine Anthropologie oder kaum philosophische Beiträge. Dabei ist der Kuss nicht nur Ausdruck einer Wellenlänge zwischen zwei Menschen, sondern auch das stille Einverständnis beider Seiten, an die Liebe zu glauben.
Kann man die Liebe eines Paares an ihren Küssen messen?
Ja, der Kuss ist wie ein Liebes-Barometer. Man kann noch lange Zeit Sex haben, aber den Rest total vernachlässigen. Es ist schwer, jemanden zu küssen, den man nicht mehr liebt. Wenn man wissen will, wie stark die Liebe eines Paares ist, man muss ihre Küsse ansehen. Nachdem mein Buch in Frankreich veröffentlicht wurde, habe ich einen Sexual-Wissenschaftler getroffen. Und er hat mir gesagt: Die erste Frage an Paare, auch bei rein medizinischen Sexualtherapien, lautet immer: „Wie oft küssen Sie sich am Tag? Und wie lange dauern Ihre Küsse?" Es wird dort als nicht-medizinische Frage gestellt, es gehört zur medizinischen Diagnose.
Sie schreiben in Ihrem Buch über den Kuss als Komma. Gibt es eine Grammatik der Liebe im Umgang zwischen Frau und Mann?
Ich denke, jeder hat seine individuelle Art, zu küssen. Es ist eine besondere Intimität, die entflammt, eine Art Mysterium. Menschen lieben sich, jeder tut es, aber wir wissen nicht wirklich, woher wir die Intuition haben. Ich habe verschiedene Methoden in meinem Buch beschrieben, wie man sich in Szene setzen kann, um seine Liebe auszudrücken. Eigentlich ist der Kuss jedoch Teil eines Theaterstücks, das sich aufbaut. Der Kuss setzt immer wieder Spannungspausen, wie ein Komma. Die Handlung schreitet voran und steigert sich – oft bis zum Sexualakt, der mit dem Orgasmus endet. Das ist dann der Punkt in der Grammatik.
Jetzt ist Frühlingszeit, da sollen die Gefühle ja besonders sprießen.
Gibt es besondere Klimabedingungen und Orte zum Küssen?
Es gibt viele Fantasien über den Verlauf in der Frühlingszeit. Aber wir wissen von Statistiken, dass die meisten Kinder im Winter gezeugt werden. Die kalte Jahreszeit ist also erotisch-sexuell deutlich besser als ihr Ruf. Die Tatsache, dass jetzt auf der Straße oder in Parks mehr geküsst wird, ist natürlich ein Phänomen. Erotik und Emotionen brauchen draußen ein Areal, wo sie sich entfalten und zeigen können. Also nichts wie raus, wenn sich die Sonne jetzt endlich mal zeigt.