Kai Tilgen: Der "DSDS"-Regisseur packt über Fernseh-Tricks aus

Lügen, manipulieren, tricksen: "DSDS"-Regisseur Kai Tilgen ist Meister seines Fachs. Mit welchen Tricks die Fernsehindustrie ihre Zuschauer vorführt, hat er im Interview verraten.
von  (cos/spot)

Menschen zu manipulieren, ist für Kai Tilgen (57) kein Problem. Seit über 20 Jahren ist er TV-Regisseur für Shows wie "Deutschland sucht den Superstar", "The Biggest Loser" und Scripted Reality. In seinem Enthüllungsbuch "Wie ich mir meinen Platz in der Fernsehhölle verdient habe" erzählt er unter anderem, mit welchen Tricks hinter den Kulissen gearbeitet wird, um Kandidaten und Darsteller möglichst bescheiden aussehen zu lassen. Auch der Nachrichtenagentur spot on news hat der selbsternannte Fernsehfuzzi einen Einblick in seinen spannenden Berufsalltag gegeben.

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Herr Tilgen, jahrelang haben Sie Menschen hinters Licht geführt und bloßgestellt. Macht Ihnen das gar nichts aus?

Kai Tilgen: Noch schlimmer, es macht mir sogar Spaß. Ich bin ein Geschichtenerzähler. Manchmal erzähle ich Geschichten, die wahr sind. Manchmal erzähle ich Geschichten, die nicht wahr sind. Das ist Teil des Jobs, Teil der künstlerischen Mischkalkulation. Ich bin ja nicht immer böse, aber wenn ich es bin oder war, dann habe ich das auch gut gemacht. Das Fernsehen funktioniert nun mal so. Ich glaube, ich habe eine gute Seite - die lebe ich zu Hause aus - und ich habe eine schlechte Seite - die habe ich im Beruf ausgelebt.

Lügen, manipulieren, tricksen - alles Dinge, die Sie gerne tun. Woher kommt das?

Tilgen: Wenn ich konnte, habe ich Bücher immer im Original gelesen. Irgendwann habe ich angefangen Patricia Highsmith zu lesen und da gab es eine Figur, die hieß Tom Ripley. Ein Hochstapler, der aus einer vermeintlich prekären Lage immer wieder einen Ausweg findet und auf die Füße fällt. Das macht er durch lügen und betrügen und durch Intelligenz. Das hat mich sehr fasziniert.

Was fasziniert die TV-Zuschauer so am "schlechten Fernsehen", wie Sie es nennen?

Tilgen: Es geht viel um Voyeurismus. Das ist genau wie auf der Autobahn: Auf der einen Spur ist ein Unfall und auf der entgegengesetzten Spur stauen sich die Autos, weil sie alle gucken wollen und dann passiert da auch nochmal ein Unfall. Ich glaube, viele Leute wollen über das Fernsehen ihren Platz in der Gesellschaft feststellen. Die Gesellschaft ist sowieso gerade komisch - alles ist im Umbruch. Man findet aber immer jemandem, dem es noch schlechter geht und auf dem rumgehauen wird.

Man denkt, die Menschen würden aus 14 Staffeln "Deutschland sucht den Superstar" lernen und wüssten, dass dort kaum echte Stars geboren werden. Warum gehen dennoch so viele zum Casting?

Tilgen: Die Menschen wollen wahrgenommen werden - werden sie in dieser grauen Masse aber nicht. Sie erfahren nicht mehr, dass sie wertgeschätzt werden. Ich glaube also, sie kommen zu Dieter Bohlen so wie der Hund zu seinem Herrchen kommt, das ihn nicht mag. Das Herrchen gibt ihm einen Arschtritt und der Hund hält es für einen Liebesbeweis. Der Arschtritt, der Dieter Bohlen den Kandidaten verpasst, ist immer noch besser, als nicht wahrgenommen zu werden.

"The Voice of Germany" funktioniert doch aber auch. Dort werden die Kandidaten nicht heruntergemacht.

Tilgen: Beim Privatfernsehen müssen wir die Zeit zwischen den Werbeblöcken so füllen, dass die Leute nicht abschalten. Das erreicht man mit Sympathie, Antipathie und Empathie. Da geht es um Gefühle. Wenn die Juroren bei "The Voice" also mit der Musik mitgehen, glauben die Zuschauer eine private Seite von ihnen zu sehen. Sie glauben, ihre Leidenschaft dafür zu erkennen. Leidenschaft ist auch ein Gefühl - das öffnet das Herz.

Es wird also nicht bewusst manipuliert oder nachbearbeitet?

Tilgen: So ganz gut gehen die mit den Leuten dort auch nicht um. Am Sonntag war einer da, der erzählt hatte, er würde in einer Kommune wohnen und hätte mit einigen seiner Mitbewohner Sex. Was hatte das für einen Sinn? Damit wurde vom Sender natürlich eine immense Fallhöhe aufgebaut und keiner von den Coaches hat sich am Ende für den Kandidaten umgedreht.

Haben Sie bei so viel Manipulation denn gar kein schlechtes Gewissen?

Tilgen: Doch, ich habe ein schlechtes Gewissen. Das verliert sich allerdings in der Dreiviertelstunde, die ich brauche, um mit dem Auto nach Hause zu fahren. Durch das Buchschreiben hat sich das jetzt aber noch einmal intensiviert, sodass ich das eigentlich auch nicht mehr machen möchte. Ich weiß nur nicht, ob ich mir das leisten kann - der dunklen Seite abzusagen.

Was ist mit Schamgefühl, kennen Sie das?

Tilgen: Diese Pissfleck-Geschichte bei DSDS ist etwas, für das ich mich schäme. Heute möchte ich so etwas nicht mehr machen. Durch das Buch habe ich im Grunde nochmal subsummiert, was ich alles an Scheiße gebaut habe und wie viele Menschen ich unglücklich gemacht habe.

Apropos "DSDS": Können Sie es sich als Regisseur herausnehmen, Kandidaten auch bewusst in Schutz zu nehmen?

Tilgen: Wenn du jeden Tag mit jemandem drehst, entwickelt sich über die Zeit eine gewisse Solidarität. Ich habe einmal jemanden interviewt, da war die Sendung schon in den Motto-Shows. Der Kandidat stand also vor der Kamera und ich fragte ihn, wie sich seiner Meinung nach sein Leben verändern wird, sollte er wirklich Superstar werden. Seine Antwort: "I want to make love to many women and children." Daraufhin habe ich zur Kamerafrau gesagt, sie soll mal eben ausmachen. Der Kandidat wusste selbst, dass das, was er gerade gesagt hatte, kacke war. Später habe ich die Aufnahme dann gelöscht. Man weiß schließlich nie, wer sie in die Hände bekommt und welche Redaktionen sie später nachbearbeiten. In diesem Moment habe ich meinen Kandidaten beschützt.

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