K. wie Buster Keaton
Saisonstart in den Kammerspielen: Kafkas „Prozess“ in Andreas Kriegenburgs Regie
Bei dem Bild stockt einem der Atem: Wenn sich der Eiserne Vorhang hebt, blickt man in einen riesigen ovalen Tunneltrichter aus Beton, senkrecht verschlossen mit einer runden Scheibe. Diese entpuppt sich als Drehbühne, die sich in die Horizontale senkt und wieder in die Vertikale hebt. Darauf stehen ein Bett, Bürotische und Stühle – der Zuschauer sieht quasi von oben in den Lebensraum von Josef K. Das Bühnenbild, das Andreas Kriegenburg für seine Inszenierung von Franz Kafkas Roman „Der Prozess“ in den Kammerspielen geschaffen hat, ist ein Geniestreich. Und der hochartifizielle schwarz-weiße Stummfilm-Expressionismus der Aufführung entspricht dem Kunstkonstrukt. Nach drei Stunden großer Premieren-Jubel mit Bravos für Kriegenburg und sein fabelhaftes Ensemble.
Zu Beginn bittet eine Schauspielerin die Zuschauer, ein Auge auf ihre Platznachbarn zu haben – man soll sich sicher fühlen. Die Sicherheit kommt Kafkas Roman-Protagonisten Josef K. stückweise abhanden: Er wird verhaftet ohne Begründung, darf in Freiheit weiterleben, gerät aber immer mehr in die Mühlen des unsichtbaren, scheinbar allmächtigen Gerichtes.
Chorische Regie
Alle acht Darsteller sind wie der Stummfilmkomiker Buster Keaton weißgeschminkt, mit dunkel umrandeten Augen, Menjou-Bärtchen und strengem Scheitel. In schwarzen Anzügen (Kostüme: Andrea Schraad) sind sie alle auch K. und wechseln fliegend von einer Figur zur anderen. Kriegenburg inszeniert sie zum Teil chorisch: Wenn Oliver Mallisons K. das Fräulein Bürstner (Katharina Schubert) küsst, stehen die anderen Schlange, um das Mädchen abzuschmatzen. Und wenn ein Windstoß das weiße Kleid von Schuberts Leni hochbläht wie bei Marilyn Monroe, liegen ihr alle zu Füßen und schauen unter den Rock.
Festen Boden unter den Füßen haben sie nur auf der Vorbühne. Auf der fast ständig rotierenden Drehscheibe dagegen sind sie den Gesetzen der Schwer- und Fliehkraft ausgeliefert. Wie sie auf diesem manchmal fast senkrechten Rad des Lebens sich an Möbel krallen und über Tische und Stühle turnen, ist eine hochkomische, akrobatische Choreografie. Nach der Pause ist die Scheibe bis auf einige Metallpfosten leer, die Schauspieler rutschen auf dem Hosenboden und dem Rücken hinunter, klammern sich embryonal an die Stangen und lassen die gekrümmten Körper der Zentrifugalkraft gehorchen. Das sieht aus wie ein großes Uhrenblatt mit beweglichen Ziffern, manchmal auch wie Insekten unter einer Riesenlupe.
Fulminante Soli
Trotz der angeschminkten Ähnlichkeit zeigen die Schauspieler eigene Facetten. Mallison ist ein verunsicherter Draufgänger, Walter Hess ein jovial polternder Onkel, Bernd Moss ein strenger Kaplan. Edmund Telgenkämper verkörpert dämonische Kraft, Lena Lauzemis die mädchenhaft-weiche Seite. Hinreißend chaplinesk spielt Sylvana Krappatsch einen italienischen Fabrikanten, und Annette Paulmann erntete für ihr furioses kabarettistisches Solo als Maler Titorelli Szenenapplaus.
Kriegenburg hat aus Kafkas düsterer Parabel auf ein undurchschaubares System eine streng stilisierte Groteske auf höchstem Niveau gemacht – mit viel Assoziationsspielraum. Nur dass über weite Strecken auf einem gleichbleibenden Ton gesprochen wird, wirkte auf nicht wenige Zuschauer doch recht einschläfernd.
Gabriella Lorenz
Kammerspiele, Karten über Tel.23396600