Juli Zeh: Es gibt nicht „die da oben“ und „uns hier unten“

Was hat die Kultur im Wahlkampf zu sagen? Viel, meint die Schriftstellerin Juli Zeh. Einmischen ist Bürgerpflicht.
von  Nada Weigelt

Die Juristin und Schriftstellerin Juli Zeh gehört zu den Autoren, die von Bundeskanzlerin Angela Merkel Aufklärung in der NSA-Affäre forderten. Im Gespräch sagt die 39-Jährige, was sie von den Spähaktionen fürchtet und warum sie Wählen wichtig findet.

Sie haben im Wahlkampf 2005 klar für Rot-Grün Stellung bezogen. Was machen Sie diesmal?

Schweigen und leiden.

Längst scheinen in Europa die Sachzwänge zu regieren. Lohnt es sich noch, zu wählen?

Absolut. Das mit den Sachzwängen ist eine Scheinargumentation, die den Bürgern suggerieren soll, dass sie sich am besten aus dem Politischen raushalten. Als gäbe es keine Entscheidungsspielräume mehr für Politik. Die Wahrheit ist, dass zu radikalen Veränderungen – wie zum Beispiel einer Regulierung des Finanzmarkts – der politische Wille fehlt. Die aktuell Regierenden betrachten sich selbst als Problemlösungsteam ohne gestalterische Ambitionen. Am bequemsten ist der Job, wenn sich die Bürger nicht einmischen. Genau deshalb ist es wichtig, dass die Bürger sich daran erinnern, was Mitbestimmung bedeutet. Wählen ist der Schlüssel dazu.

Sehen Sie die Spähprogramme der Geheimdienste als Gefahr für die Freiheit der Kunst?

Vor allem als Gefahr für die Freiheit insgesamt. Ein beobachteter Mensch ist kein freier Mensch mehr. Jeder kann das ausprobieren: Man versuche nur einmal, sich vor einer Kamera „ganz natürlich“ zu benehmen. Beobachtung beeinflusst unser Verhalten und unser Denken. Wir versuchen automatisch, uns unauffällig zu benehmen. Das ist das Gegenteil eines freiheitlichen Gefühls.

Haben Kulturschaffende Einfluss auf die Politik?

Kulturschaffende haben vor allem Einfluss auf das Bewusstsein der Gesellschaft. Kunst und Literatur können den Blick erweitern für die Welt, die uns umgibt. Die Mentalität der Menschen ist immer Hintergrund für das Handeln der Volksvertreter. Es gibt nicht „die da oben“ und „uns hier unten“. Alles, was das Lebensgefühl und das Weltbild der Bürger beeinflusst, nimmt indirekt auch Einfluss auf die Politik.

Braucht Deutschland einen Bundeskulturminister?

Ehrlich gesagt: Ich wüsste nicht, wofür. Deutschland braucht vor allem den politischen Willen, ausreichend Geld in Bildung und Kultur zu investieren, auch wenn sich Investitionen in diesem Sektor nicht innerhalb der aktuellen Wahlperiode, sondern erst langfristig auszahlen. Deutschland verfügt nicht über materielle Rohstoffe. Unser Rohstoff im Informationszeitalter ist die kulturelle und geistige Bildung der Menschen im Land.

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