Joss Stone: Vom Soul-Wunder verzaubert
Traumwelt der Nettigkeits-Joplin: Frauen und Männer werden vom Soul-Wunder in der Tonhalle verzaubert
„Just a little bit less!“ – Ein bisschen weniger – singt sie immer wieder, sich wiegend in ihrem schulterfreien, tief ausgeschnittenen, hautengen, blauseidigen Kleid. Die langen braunen Haare umspielen ihr Mädchengesicht. Sie dimmt mit einer wogenden Armbewegung ihre Band runter und fällt in eine Art Erzähl-Gesang. Es ist der intimste Moment des Konzerts. Stone erzählt kurz von ihrem „langen Leben“, „dass Liebe halt doch das Süßeste ist“, erklärt den Song lachend zum „langen Liebesbrief an München“ – am Ende wird sie sogar weiße Rosen ins Publikum werfen.
Und da schimmert sie durch: Die Ironie einer gerade mal 22-Jährigen, die nur von Liebe singt und das mit einer fantastischen Soulstimme, hinter der eigentlich ein hartes Leben stehen müsste. Denn die Stimme hat dieses kunstvoll gepresste Flehen voll Lebenserfahrungsschmerz, mit einem frechen Sehnsuchts-Klagevibrato, das aus dem tiefen Inneren des – eigentlich so zarten – Körpers kommt.
In diesen ruhigen Momenten – ansonsten werden die Ränder des Soul vom leicht Rockigen bis zum Reggae ausgelotet – ist das Publikum in erotischer Trance. Joss Stone ist ein Männertraum für jazzig Romantische – ein peinlicher „Schnucki“-Ruf aus dem Publikum hatte sie anfangs begrüßt. Aber junge Frauen sind im Publikum sogar leicht in der Überzahl. Stone gibt ihrer Schlüsselreiz-Schulmädchen-Romantik einen Schuss Emanzipation dazu. Eine Stunde lang hatte man vor Beginn bis weit auf die Grafinger Straße hinaus Schlange gestanden, diszipliniert, wie es sich in Erwartung einer Engländerin gehört.
Am Ende ist das Konzert der Nettigkeits-Joplin ein herzerwärmender Traum in der vollen Tonhalle, vielleicht ein wenig glatt. Stone könnte die Klangeinheit (Rockband plus Saxophon, Synthesizer und zwei Background-Sängerinnen) mit einer Ballade und akustischer Gitarrenbegleitung durchbrechen oder den kargeren Blues ausloten. Aber dazu hat sie ja noch viel Raum, auch weil sie ihrem Großlabel Sony den Laufpass gegeben hat.
Adrian Prechtel