Joni Mitchell zum 80. Geburtstag

Ihr Werk ist gigantisch - nun kommt der Mitschnitt eines Konzerts hinzu, mit dem niemand mehr rechnete
Dominik Petzold |
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Die kanadische Liedermacherin Joni Mitchell beim Isle of Wight Festival (1970).
picture alliance/dpa/UPI 3 Die kanadische Liedermacherin Joni Mitchell beim Isle of Wight Festival (1970).
Joni Mitchell 2013 bei einer Veranstaltung in Toronto.
picture alliance/dpa 3 Joni Mitchell 2013 bei einer Veranstaltung in Toronto.
Joni Mitchell kurz nach ihrem Durchbruch im Jahr 1968.
IMAGO/Avalon.red 3 Joni Mitchell kurz nach ihrem Durchbruch im Jahr 1968.

Seit 2015 war sie aus der Öffentlichkeit verschwunden. Joni Mitchell hatte ein Hirnaneurysma erlitten, sie konnte weder sprechen noch laufen, musste die fundamentalsten Dinge neu erlernen. Niemand rechnete damit, sie wieder auf einer Bühne zu sehen. Doch im Sommer 2022 rieb sich die Musikwelt die feuchten Augen, als Joni Mitchell unangekündigt auf dem Newport Folk Festival auftrat. Es war das zweite Comeback im Leben dieser außergewöhnlich willensstarken Frau.


Am 7. November 1943, heute vor 80 Jahren, war sie als Roberta Joan Anderson zur Welt gekommen, als Tochter eines Soldaten und einer Dorfschullehrerin. Sie wuchs im Nirgendwo in der kanadischen Prärie von Saskatchewan auf, weit vom kulturellen Leben entfernt. Mit acht Jahren war sie an Kinderlähmung erkrankt, die Ärzte rechneten nicht mit Heilung - doch das junge Mädchen war so zäh wie eigenwillig und kämpfte sich zurück ins Leben.

Die Kraft kehrte aber nie ganz in ihre linke Hand zurück. Als sie sich selbst das Gitarrespiel beibrachte, erfand sie deshalb eine ganz eigene Art zu spielen: mit ungewöhnlichen Stimmungen, die mit einfachen Griffen komplexe Akkorde ermöglichten: So entstand ihre eigene, spannungsreiche und schwebende Harmonik. "Joni hat alles an ihrer Musik selbst erfunden", sagte ihr späterer Freund James Taylor, "einschließlich der Stimmungen ihrer Gitarre."

Mit 19 begann sie aufzutreten, 1964 zog sie nach Toronto und spielte in Folk-Clubs und Kaffeehäusern. Sie heiratete den Folksänger Chuck Mitchell, doch die Ehe hielt nicht lang, nur sein Name blieb, Joni Mitchell zog in die USA. Als David Crosby sie 1967 in einem Folkclub in Florida entdeckte, fühlte er sich "wie von einer Handgranate getroffen".

Mitchell begann eine Liaison mit ihm und folgte ihm ins aufblühende musikalische Epizentrum L.A. Da hatte sie schon viele spätere Klassiker im Repertoire, zum Beispiel "The Circle Game" oder "Both Sides, Now". Zudem sang sie mit einer glockenklaren, durchdringenden Mehr-Oktaven-Stimme. Crosby stellte sie stolz seinen Rockstar-Freunden im Laurel Canyon vor, und bevor irgendjemand sonst sie kannte, galt Mitchell im Musikadel als Sensation.

Judy Collins machte "Both Sides, Now" zum Hit, das Lied sollte noch über 1200 Mal aufgenommen werden. Und mit einem Auftritt beim Newport Folk Festival 1969 und ihrem zweiten Album "Clouds" wurde Joni Mitchell selbst zum Star. Sie sollte im selben Jahr auch in Woodstock auftreten, doch ihr Agent David Geffen redete ihr das aus: Er hatte Angst, dass sie auf der Rückfahrt im Stau stecken bleiben und ihr Auftritt bei einer TV-Show ins Wasser fallen könnte. Als sie im Fernsehen deprimiert die Bilder des Jahrhundertereignisses sah, schrieb sie die Hymne dazu: "Woodstock". Sie erschien auf ihrem Album "Ladies Of The Canyon", das mit Platin ausgezeichnet wurde, Matthews Southern Comfort machte das Lied später zum Nummer-eins-Hit.

Doch es sollte das nächste Album sein, das Mitchell 1971 in die erste Reihe der Songwriter brachte, direkt neben Bob Dylan: "Blue". Die intensiven Aufnahmen lassen die Zuhörer teilhaben, wie sie den Überschwang frischer Liebe genießt - in den zauberhaften Anfangsstücken Stücken "All I Want" und "My Old Man" - und danach ins bodenlos Traurige stürzt.

Erst Jahrzehnte später erfuhr die Welt, wo diese Trauer herrührte: 1965 hatte sie, auf Druck der konservativen Eltern, ihre Tochter nach der Geburt zur Adoption freigegeben. "Ich habe Musik gemacht, um mit der enormen Unruhe klarzukommen, die ihr Verlust bei mir ausgelöst hat", sagte Mitchell später. Sie sollte die Tochter in den Neunzigern kennenlernen.

Die Musik, mit der sie den Schmerz inzwischen verarbeitete, wurde immer spektakulärer. Auf "Court And Spark", ihrem Meisterwerk von 1974, spielte sie mit der Fusion-Band "L.A. Express" einen einzigartigen Mix aus Jazz, Pop, Rock und Kunstlied. Der war komplex und dennoch eingängig, mit "Help Me" feierte Mitchell ihren einzigen Top-Ten-Hit. Auf dem Gipfel angelangt, entwickelte sie ihre Kunst sogleich weiter: "The Hissing Of Summer Lawns" (1975) klang wie ein vertonter, samtweicher Traum, eine Sängerin samt Band in Trance, ein sagenhaftes Album - aber zu komplex für den Popmarkt. Kritiker verrissen die Platte seinerzeit, die Verkäufe gingen zurück.

Das ebenso meisterhafte "Hejira" (1976) klingt auch wie Musik aus einem Traum, der allerdings spielt auf einer staubigen Landstraße: Mitchell reduzierte den Sound weitgehend auf ihre Gitarre und den bundlosen Bass von Jaco Pastorius. Mit "Don Juan's Reckless Daughter" (1977) irritierte sie ihre Fans dann nachhaltig, etwa mit einer seitenlangen Suite samt orchestralen Passagen. Dann nahm sie ein Angebot des todkranken, legendären Jazzers Charles Mingus an, schrieb Texte zu seinen letzten Kompositionen und nahm die Stücke auf: Das Jazz-Album "Mingus" von 1979 war ein angekündigter kommerzieller Selbstmord.

Das Interesse des breiten Publikums hatte sie verloren, und in den Achtzigern gewann sie es nicht zurück. Sie ließ sich zwar wie fast alle anderen auf Synthesizer und digitalen Hall ein, doch ihre weiterhin anspruchsvollen Songs klangen ein wenig aus der Zeit gefallen. Ab Ende der Neunziger nahm sie dann mit Orchestern auf, etwa 2002 "Travelogue": Da sang sie ihre Lieblingsstücke mit einer durch jahrzehntelanges Rauchen viel tiefer gewordenen Stimme. 2007 folgte ein letztes Album mit neuen Songs, "Shine".

Nach dem Aneurysma 2015 war für sie jahrelang nicht daran zu denken, Musik zu machen. Doch seit 2017 lud sie häufig Kollegen in ihr Wohnzimmer ein, um für sie zu singen und spielen. Zu diesen sogenannten "Joni Jams" kamen Stars wie Paul McCartney, Elton John oder Harry Styles, vor allem aber viele um zwei Generationen jüngere Musiker aus L.A., die sie bewunderten, etwa Brandi Carlile, Blake Mills oder Marcus Mumford.

Joni hörte zu - und eines Abends sang sie plötzlich selbst "Summertime". Herbie Hancock sei in Tränen ausgebrochen, erzählte Brandi Carlile - und sie wiederum habe die Idee gehabt, dass Joni beim Newport Folk Festival auftreten müsse. Dieser Auftritt rührte im Sommer 2022 viele Menschen zu Tränen, auch nicht wenige der zwei Dutzend "Joni Jam"-Musiker, die neben ihr auf der Bühne standen.

Dieses historische Comeback kann man nun auf Platte anhören: "Joni Mitchell At Newport". Es ist nicht nur rührend, sondern auch musikalisch sehr lohnend, da die Musiker exzellent sind. Wie im Wohnzimmer singen sie abwechselnd für Joni, etwa Celisse ein bluesiges "Help Me" oder Lucius "Big Yellow Taxi". Mitchell selbst singt hier und da mit, wenn ihr danach ist, aber einige Songs singt sie auch allein oder im Duett mit Brandi Carlile, sehr berührend etwa "A Case Of You" - und ihre Stimme ist noch immer präzise und voller Charisma.

Einmal greift sie auch zur Gitarre und spielt, in ihren völlig eigenen Akkorden, "Just Like This Train". Das ist bemerkenswert, schließlich musste sie sich das Gitarrespielen ein zweites Mal beibringen: Dafür sah sie sich Youtube-Videos ihrer eigenen Auftritte an und beobachtete ihre Finger, um die Griffe zu erinnern.

Am bewegendsten an diesem Konzert aber ist "Both Sides, Now". Dieser weise Song über die Liebe und das Leben, den Joni Mitchell mit Anfang zwanzig schrieb, hatte Leonard Cohen, einen ihrer vielen berühmten Partner, seinerzeit rätseln lassen: Wie konnte diese junge Frau aus dem Nirgendwo, die bis dahin nach eigener Auskunft nur Comics und "Herr der Ringe" gelesen hatte, einen derart vollkommenen Song schreiben? Seine Erklärung: "Von Anfang an war alles da, wie ein Geschenk der Götter. Sie wurde einfach so geboren."

Nun, nach einem gelebten Leben und einem unglaublichen Comeback, klingt der Song noch berührender als je zuvor.

"Joni Mitchell At Newport" ist bei Rhino/Warner als Doppel-LP und CD erschienen

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