„Jeder Engel ist schrecklich“
Edgar Selge und Franziska Walser sprechen im Resi Rilkes „Duineser Elegien“
Er ist einer der meistbeschäftigten deutschen Schauspieler. Gestern war Edgar Selge im Fernsehfilm „Mauerfall“ zu sehen. Und gerade hat er als einarmiger Kommissar Tauber den letzten „Polizeiruf 110“ abgedreht, der am 7. 11. gesendet wird. Doch Edgar Selge kehrt immer wieder zur Bühne zurück, auch mit eigenen Projekten. Mit seiner Frau Franziska Walser spricht er morgen im Resi unter dem Titel „Jeder Engel ist schrecklich“ Rilkes „Duineser Elegien“.
Mit dem Gedichtzyklus von Rainer Maria Rilke beschäftigt sich Selge seit 12 Jahren. Den Anstoß dazu gab Franziskas Vater, der Schriftsteller Martin Walser. „Ich war überhaupt kein Rilke-Fan“, erzählt Selge. „Am Mittagstisch bei der Familie Walser habe ich mal flapsige Bemerkungen über Rilkes Lyrik gemacht. Das hat sich Franziskas Vater leicht zurückgelehnt und den Beginn der ersten Elegie zitiert. Ich saß da und war innerlich angestoßen wie selten.“ Er begann, die Elegien zu lesen und zu lernen: „Ich habe mir von einer Text-Insel zur anderen Tunnel gegraben und mir mein Verständnis zusammengebaut.“
Ab 1997 präsentierte Selge die ersten sieben der zehn Elegien über 50 Mal als Soloabend im Werkraum. Da hatte er gerade an den Kammerspielen gekündigt. „Ich habe mich an diese Texte geklammert, weil ich es dann als Schauspieler ja nicht mehr mit Bühnenliteratur, sondern nur noch mit Drehbüchern zu tun hatte“, sagt er. Nach jahrelanger Pause kam die Überlegung zur Wiederaufnahme und Vervollständigung – aber nun zu zweit. Selge spricht die ungeraden Elegien, Franziska Walser die geraden. Sie sagt: „Diese schweren Gedichte sind leichter zu verstehen, wenn man sie laut spricht als wenn man sie leise liest. Über das langsame laute Lernen und Sprechen konnte ich sie emotional verstehen.“
Verzweiflungsgesänge
Ähnlich ging es auch Selge: „Als auswendig gelernte Gestaltung würde das nicht funktionieren. Man muss die Texte mitdenken – im Sinne von Kleists allmählichem Verfertigen der Gedanken beim Reden. Ohne alle Psychologie, mit der man als Schauspieler sonst meist beschäftigt ist. Und das ist im Zusammenhang mit dem Inhalt einfach ein Genuss, den wir uns nicht entgehen lassen wollen.“
Die Elegien entstanden zwischen 1912 und 1922 mit fast zehn Jahren Pause, sie markieren Anfang und Ende einer großen Schaffenskrise Rilkes. Selge nennt sie „Verzweiflungsgesänge“: „Am stärksten zeigt sich das in den ersten vier, fünf Elegien, dann gräbt sich ein versöhnender, lebensbejahender Duktus durch, der in der neunten kulminiert. Da gibt der Mensch den Dingen einen Namen und dadurch eine Seele.“ Walser ergänzt: „In der zehnten folgt wieder der Absturz, die Leere des Lebens. Der Ton ist mitreißend bis hymnisch, aber der Inhalt melancholisch und verzweifelt. Doch der Mut, das auszusprechen, gibt Halt.“
Die Klagelieder sind ein Abgesang und gleichzeitig eine Liebeserklärung ans Leben. Immer wieder beschwört Rilke Engel, jedoch keine netten christlichen Engel, sondern schreckliche biblische. Selge: „Der Raum, den Rilke durch die Engel öffnet, macht deutlich, dass der Mensch fremd ist und sich fremd bleibt.“ Für ihn schildern die Elegien „ein Hinübergehen vom Leben zum Tod“. Walser sieht in der Mischung aus Philosophischem und Religiösem Rilkes Versuch, eine Gegenwelt zu erzeugen, in der die Menschen aus dem Jetzt nach vorne ins Offene schauen sollen.
Bald an der Burg und in Berlin
Nach vorne sieht auch das Schauspieler-Ehepaar: Edgar Selge wird im Winter am Wiener Burgtheater den Jago in „Othello“ spielen. Im März wird er in Berlin Kleists „Zerbroch’nen Krug“ wieder aufnehmen. Er spielt darin den Dorfrichter Adam, Franziska Walser die Marthe Rull. Sie hat eben die Komödie „Generation Praktikum“ für den SWR gedreht und tourt gelegentlich mit einer Lesung aus Büchern der eigenwilligen oberschwäbischen Lehrerin Maria Beig. Ein gemeinsames Zukunftsprojekt planen die beiden auch: Bei den Ruhrfestspielen 2011 wollen sie Johann Wolfgang von Goethe „Iphigenie“ zu zweit spielen.
Gabriella Lorenz
Residenz Theater, 2. Oktober, 20 Uhr, Tel.21851940