Ingeborg Gleichauf über Gudrun Ensslin

Ingeborg Gleichauf beweist, wie schwer es ist, eine Biografie der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin zu schreiben
Robert Braunmüller |
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Die Anfänge der RAF: Thorwald Proll, Horst Söhnlein, Andreas Baader und Gudrun Ensslin als Angeklagte im Frankfurter Kaufhausbrandprozeß.
Manfred Rehm/dpa Die Anfänge der RAF: Thorwald Proll, Horst Söhnlein, Andreas Baader und Gudrun Ensslin als Angeklagte im Frankfurter Kaufhausbrandprozeß.

Die schwäbische Pfarrerstochter. Das ist ein Leitmotiv aller Autoren, die über Gudrun Ensslin geschrieben haben. Die Pfarrerstochter, die zur Waffenfetischistin wurde. Die Pfarrerstochter, die der Frauenheld und Ganove Andreas Baader zur Terroristin gemacht hat. Die Pfarrerstochter, die zum „Todesengel“ wurde.

Ingeborg Gleichaufs Biografie „Poesie und Gewalt. Das Leben der Gudrun Ensslin“ beginnt mit einer scharfen Kritik an den Männerfantasien der RAF-Bücher von Stefan Aust, Butz Peters und Jillian Becker, durch die sie als „blondes Schulmädchen“, „begabte Sekretärin“ oder „stille Denkerin“ geistert. Und an den Verfilmungen von Reinhard Hauff und Uli Edel, deren Bilder in vielen Köpfen haften.

Gleichauf nähert sich der Terroristin in einem sensiblen, feministisch angehauchten Tonfall, der ihrer Biografie über Ingeborg Bachmann entlehnt zu sein scheint. Aber das ist weniger abwegig, als es scheint. Eine These des Buchs steckt im Untertitel „Poesie und Gewalt“. Gudrun Ensslin wollte über Hans Henny Jahn promovieren. Die verstiegene, radikale und absolute Kulturkritik dieses literarischen Außenseiters könnte als biografischer Katalysator gewirkt haben. Echos seiner Texte finden sich noch in den wirren, von Hungerstreiks und psychischen Deformationen gezeichneten Äußerungen aus der Haft in Stuttgart-Stammheim.

Kein enges Pfarrhaus

Die These von engen Pfarrhaus-wird durch Differenzierung widerlegt: Gudrun Ensslins Vater stand der Bekennenden Kirche nahe. Er war kein schwäbischer Pietist, sondern ein spröder Intellektueller mit Ambitionen als Maler. 1940, als seine Tochter Gudrun geboren wurde, hatte er eine Stelle im Dorf Bartholomä auf der Schwäbischen Alb. Die Leute dort standen den Nazis distanziert gegenüber, der katholische Kollege auch.

Über die Schulzeit Gudrun Ensslins weiß man wenig. Sie studiert Germanistik mit dem Ziel Lehramt. In Tübingen verliebt sie sich in Bernward Vesper, den labilen und notorisch untreuen Sohn eines Nazi-Schriftstellers. Beide verloben sich sehr bürgerlich und heiraten. Später gründen sie in Berlin einen linken Kleinverlag und unterstützen Willy Brandt im Bundestagswahlkampf von 1965.

Dann beginnt die Studentenrevolte. Am Abend des 2. Juni 1967, nach der Ermordung Benno Ohnesorgs, soll Ensslin auf einer Versammlung gerufen haben, das sei die Generation von Auschwitz, die „wollen uns alle ermorden“. Dieser mythisch gewordene Auftritt, für den es keinen sicheren Beleg gibt, stiftete den Mythos von der hysterischen Radikalen.

Eine Katze ertränken

Zur gleichen Zeit verliebt sie sich in Andreas Baader, der sein Leben nach Jean-Luc Godards Film „Pierrot le fou“ zu modellieren scheint. Das Abgleiten in den Terror geschieht laut dieser Biografie beiläufig. Wenn sie ein Engagement am Münchner Action-Theater bekommen hätten, wären sie möglicherweise nicht nach Frankfurt gefahren, um aus Protest gegen den Vietnamkrieg dort Brandsätze in Kaufhäusern zu legen.

Baader und Ensslin suchen den Kick. Sie reisen durch Deutschland und wollen im Starnberger See eine Katze ertränken. „Wir waren so leicht schwebend. So abgehoben“, zitiert Gleichauf einen Zeugen, der dabei war. Nebenbei müssen sie den Bombenbau erlernt haben – aber dazu sagt diese Biografie nichts. Es folgen Gerichtsverfahren, Haft, ein kurzes soziales Engagement für Heimkinder, Banküberfälle, ein Gastspiel in einem Palästinenserlager und eine weitere Hinwendung zur Gewalt. Bestürzend ist die seelische Kälte: Ensslin gibt ihren kleinen Sohn zu Pflegeeltern, ohne sich weiter um ihn zu kümmern.

Baader, Ensslin und wenig später auch die Journalistin Ulrike Meinhof verstehen sich als Stadtguerilla nach der Theorie des Brasilianers Carlos Marighella. „Motorisierung, Geld, Waffen, Munition, Sprengstoff“ lautet das Rezept. Anschläge sollen die Massen aufrütteln: gegen den Vietnamkrieg, für eine revolutionäre Veränderung der Gesellschaft.

Immer zynischer, immer brutaler

Die Massen bleiben stumm, die Sprache der RAF wird zynisch und brutal. 1972 wird Ensslin beim Pulloverkauf in einer Hamburger Boutique verhaftet. In der Haft zerstören sich Ensslin & Co. selbst mit Hungerstreiks und sektenähnlichem Psychoterror. 1977 scheitert der Versuch der zweiten RAF-Generation, die Inhaftierten freizupressen. Ensslin, Baader und Jan-Carl Raspe begehen im Hochsicherheitstrakt der JVA Stuttgart-Stammheim Selbstmord.

Gleichaufs Buch eignet sich nicht als Erstinformation über den linksextremistischen Terror. Die Autorin bleibt zu ihrem Gegenstand auf Distanz. Sie interessiert sich wenig für Politik und geht auf die Zeitumstände knapper als nötig ein. Dass Rudi Dutschke der Taufpate von Ensslins Sohn war, erfährt man ohne Erklärung über die Beziehung aller Beteiligten aus einem Nebensatz – das ist zu wenig.

Eine Geschichte aus der deutschen Vergangenheit

Parallelen zum heutigen Terror lassen sich kaum ziehen – für Rückschlüsse auf die Gegenwart war die RAF zu deutsch und zeitverhaftet. Warum ist das Buch trotzdem lesenwert, obwohl es am Thema fast scheitert? Weil es Aussagen von Augenzeugen nicht buchstäblich nimmt. Weil es Spekulationen misstraut.

„Poesie und Gewalt“ handelt von der Unmöglichkeit einer Biografie. Das ist ehrlicher als die dröhnende Selbstgewissheit, mit der andere Bücher vom Leben fremder Menschen fabulieren.

Ingeborg Gleichauf: „Poesie und Gewalt. Das Leben der Gudrun Ensslin“ (Klett-Cotta, 350 S., 22 Euro)

 

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