In Moskaus Untergrund
MÜNCHEN - Sein Erstling "Kind 44" war ein internationaler Besteller. Jetzt setzt Krimi-Autor Tom Rob Smith mit dem Polit-Thriller „Kolyma“ sein Erfolgsdebüt fort.
Nein, es is nix mit die zweite Teil“, meinte der österreichische Dramatiker Johann Nestroy einst aus schmerzlicher Erfahrung. Im Kino und in der Literatur geht es öfter schief, wenn unter Erfolgsdruck rasch eine Fortsetzung mit gleichen Figuren nachgeschoben wird. „Kolyma“ ist eine seltene Ausnahme. 2008 gelang dem Briten Tom Rob Smith (28) ein spektakuläres Krimi-Debüt: Sein in 26 Sprachen übersetzter Bestseller „Kind 44“ erzählte die Aufklärung eines Serienmords im stalinistischen Russland durch einen auf eigene Faust ermittelnden Geheimdienstmann.
Die Spannung bezog dieser Thriller aus der glaubhaft geschilderten Atmosphäre einer durch die Brutalität des Zweiten Weltkriegs und die Bespitzelung zerstörten Gesellschaft ohne Vertrauen. Der zweite Teil spielt drei Jahre später in der „Tauwetter-Periode“. Leo Demidow, der Ermittler des ersten Bandes, ist nun Chef der ersten und einzigen russischen Mordkommission. Sie agiert als „Knopffabrik“ getarnt in den Räumen oberhalb einer Moskauer Großbäckerei.
Den historischen Kern bildet die Stalin-kritische Geheimrede Chruschtschows auf dem 20. Parteitag der KPdSU. Danach wurden einige sibirische Gulags geöffnet und viele Inhaftierte befreit. Noch im gleichen Jahr 1956 wurde die Liberalisierung unter dem Eindruck des Ungarn-Aufstands wieder rückgängig gemacht, weil die politische Klasse ihre Entmachtung befürchtete.
Historische Fakten im Thriller eingebettet
„Kolyma“ übersetzt diese historischen Fakten in eine Thriller-Handlung. Leo Demidow wird von seiner Vergangenheit bei der Geheimpolizei eingeholt, weil eine ins kriminelle Milieu abgesunkene Frau seines ersten Opfers blutig Rache nimmt. Die adoptierte Tochter des Ermittlers reißt unter dem Eindruck der in ihrer Schule verlesenen Geheimrede ein Stalin-Bild herunter und gerät in die Mühlen der Psychiatrie (die unter Chruschtschow das System der Straflager abzulösen begann).
Das Buch enthält mit waghalsigen Verfolgungsjagden über Dächer und durch die Moskauer Kanalisation samt verätzten Türschlössern alles, was zu einem Thriller gehört. Der Titel verrät bereits, dass sich der Ermittler in ein sibirisches Straflager einschleusen lässt. Als Zugabe zum brillant beherrschten Krimi-Handwerk garniert der Autor die Geschichte mit treffend charakterisierten Nebenfiguren wie dem Sprengmeister, der eine Kirche in die Luft jagt, oder der Wächters eines Gefängnisschiffs, der bei einem Aufstand der Häftlinge vom Pazifik hinweggespült wird.
Unterhaltsame Verschwörungstheorie
Nicht völlig gelungen ist die Gegenspielerin des Ermittlers, die als Herrscherin über eine Verbrecherbande allzu symbolträchtig im Moskauer Untergrund herrscht und unvermeidlich an den König des Rotwelschenreichs aus dem Kolportage-Klassiker „Notre Dame de Paris“ von Victor Hugo erinnert. Auf den letzten, in Ungarn spielenden Seiten nähert sich die Verbindung zwischen der historischen Handlung und dem Krimi arg einer Verschwörungstheorie.
Dennoch: In der Form eines Unterhaltungsromans erzählt dieser Autor erneut packend vom Verlust der Werte in einer Diktatur. Aus diesem Thriller erfährt man mehr über das Lebensgefühl in der Sowjetunion als aus mancher Dokumentation. Und nachdem aller guten Dinge drei sind, wird Tom Rob Smith an einer Fortsetzung arbeiten. Da er sich, wie er im Sommer bei einem München-Besuch verriet, vom Honorar des ersten Bandes viele historische Bücher über Russland kaufte, wird es ihm an Material nicht fehlen.
Robert Braunmüller
Tom Rob Smith: „Kolyma“ (DuMont, 476 Seiten, 19.95 Euro), ab Montag im Handel
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