In der ländlichen Hölle
Krieg herrscht im Land, der Vater wird Soldat und die Mutter bringt ihre beiden Söhne von der Großen Stadt an der Grenze. Im Dorf bei der Oma sind sie sicherer als zu Hause. Die Biografie der Autorin gibt die sachdienlichen Hinweise auf das wann und wo: Ágota Kristóf, Jahrgang 1935, stammte aus Ungarn, und als sie zehn Jahre alt war, lebte sie in einer Kleinstadt nahe der Grenze zu Österreich. Dort erlebte sie das Ende des Zweiten Weltkriegs und den Übergang vom Nationalsozialismus der Deutschen zum Stalinismus sowjetischer Art.
Nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands 1956 emigrierte Ágota Kristóf mit dem Ehemann und der Tochter in die Schweiz. 1986 veröffentlichte sie den Roman "Das große Heft" und wurde damit sofort eine der wesentlichen literarischen Stimmen Europas.
Die von Dramaturg Leon Frisch und Regisseur Ran Chai Bar-zvi angefertigte Bühnenfassung ist die zweite Premiere des Wochenendes zum bemerkenswert spannenden Saisonstart des Volkstheaters, und die inhaltliche Verzahnung beider Stoffe ist verblüffend eng.
Sowohl in Jean Genets "Die Zofen" aus der eleganten Weltmetropole Paris als auch in Ágota Kristófs "Das große Heft", das in prekärem Bauernmilieu irgendwo im östlichen Mitteleuropa spielt, geht es um autoritäre Strukturen, in denen ein Geschwisterpaar seinen Platz sucht und, zumindest für eine gewisse Zeit, selbst die Spielregeln bestimmen kann. Kristófs Zwillingsbrüder sind neun, als sie die Mutter bei der Großmutter abliefert, und die ist ein radikaler Gegenentwurf zur gütigen Oma, wie man sie sonst so lieb hat.
Die Kleinbäuerin ist völlig verwahrlost, wird im Dorf als "die Hexe" beschimpft, die einst ihren Mann ermordetet haben soll, und beutet die Kinder ihrer Tochter, die sie verachtet, ebenso hasserfüllt wie grausam aus. Die Buben lernen schnell, die Zivilisation, wie sie sie bisher kannten, abzuschütteln. In brutalen Ritualen bringen sie sich gegenseitig bei, Schmerzen zu ertragen. Ganz allmählich gewinnen sie die Kontrolle über das Dorf, das sie mit Raub und Erpressung beherrschen.
Ihre sexuelle Aufklärung erfahren sie nicht nur von der fiesen und triebhaften Magd des gleichfalls chronisch lüsternen Pfarrers, sondern auch vom Nachbarmädchen, das alle nur "Hasenscharte" nennen und es mit Omas Hund treibt. Töten ist Teil dieses Überlebensprogramms, aber nur, "wenn es nötig ist". Das heißt nicht, dass sie sich nicht hilfreich um Leute kümmern, die hungern oder denen Unrecht geschieht.
So ungenau die monströsen Kinderschicksale historisch verortet sind, so präzise ist die Sprache, in der sie beschrieben werden. In "das große Heft" notieren die Brüder "nur Wahres" in einer schnörkellosen und empathiefreien Sprache, die in ihrer knappen Klarheit erschüttert. Regisseur Bar-zvi, der damit sein Volkstheater-Debüt gab, verlängert diesen Schreibstil ins Szenische. Es gibt keine festen Rollenzuschreibungen und die Zwillinge sind zu fünft.
Ruth Bosung, Nina Steils, Julian Gutmann, Jonathan Müller und Max Poerting sind sowohl die Geschwister als auch die anderen Figuren aus dieser ländlichen Hölle, in der es den Krieg gar nicht braucht, um unmenschlich zu sein. Der hohe Abstraktionsgrad dieses epischen Inszenierens ist nicht ungefährlich, denn die ersten der 110 Minuten auf der Bühne 2 wirken spröde. Doch auf Kristófs Text ist Verlass. Der Sog der kurzen Sätze entwickelt sich in der auf die Sprecherinnen und Sprecher verteilten Rezitation auf erbarmungslose Weise mit großer Kraft.
Da in die Version des Volkstheaters auch die beiden Fortsetzungsromane "Der Beweis" und "Die dritte Lüge" in klug platzierten Ausschnitten einbezogen sind, erkennt man nicht nur die Muster, auf die die Menschen unmittelbar im Krieg wirken, sondern auch, was sie danach mit der Geschichte der Überlebenden machen. Im großen Heft kann man die Wahrheit von damals zwar nachlesen, aber die einen halten das für die Fiktion überspannter Kinder, die anderen können sich an nichts erinnern.
Münchner Volkstheater, Bühne 2, 24., 25. Oktober, 10., 12. November, 20 Uhr, % 5234655
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