Im Fleischwolf des Repertoires

Die Vor-, Früh- und Urgeschichte eingerechnet, darf das Bayerische Staatsorchester heuer seinen 500. Geburtstag feiern. Zum Orchester im modernen Sinn wurden seine Vorläufer allerdings erst vor 245 Jahren durch die Fusion mit der Mannheimer Hofkapelle, die 1778 mit dem Kurfürsten Karl Theodor nach München umzog. Mozart schätzte diese Musiker sehr. Für ihre spezifischen Möglichkeiten konzipierte er 1781 den ausgefeilten Instrumentalpart seiner Oper "Idomeneo", die in der eben begonnenen Saison fünfmal im Nationaltheater gespielt wird, weil sie zum Traditionsbestand des Hauses neben den "Meistersingern" und "Tristan" gehört.
Die Neuproduktion von Constantinos Carydis (Dirigent) und Antú Romero Nunes (Regie) kam 2021 als letzte Premiere der Ära Bachler unter Festspiel-Bedingungen im Prinzregententheater heraus. Es ist heikel, eine solche Produktion durch den alles Exzentrische nivellierenden Fleischwolf des Repertoirebetriebs zu drehen und in weitgehend neuer Besetzung und mit einem anderen Dirigenten ins doppelt so große Nationaltheater zu versetzen. Denn "Idomeneo" ist verletzlicher und längst nicht so robust wie Puccinis "Tosca" oder Mozarts "Zauberflöte".
Carydis hatte eine sehr dezidierte, schroffe Sicht auf die Musik. Der neue Dirigent Christopher Moulds konzentriert sich auf die orchesterbegleiteten Rezitative, den Rest lässt er routiniert laufen. Das Blech spielt knackig historisch informiert, das virtuose Holz des Staatsorchesters dominiert den Klang, während die Streicher eine etwas altmodisch-neutrale Mozartherrlichkeit verbreiten. Carydis' sehr subjektives Continuo-Konzept mit Hammerklavier und Cembalo wird unter dem neuen Dirigenten nicht mehr deutlich. Was nicht überrascht, aber einer Lösung bedürfte.
Der Chor ist für die Dimensionen des Nationaltheaters zu schwach besetzt, worunter die monumentale Kraft der Sturmszenen leidet. Viele wichtige Stellen erklingen vergleichsweise hurtig und ausdrucksarm. Das wirkt auf Dauer unbefriedigend und angesichts der enzyklopädischen Vollständigkeit der Aufführung auf Dauer ermüdend.
Pavol Breslik war in Dieter Dorns Inszenierung des Jahres 2008 im Cuvilléstheater noch der Idamante. Jetzt singt er den Idomeneo. Einen Gefallen tut er sich damit kaum - jedenfalls nicht in einem Haus von der Größe des Nationaltheaters. Das Metall seines Tenors ist von eher mattem Silber. Für die ohne Bravour gesungene Bravourarie "Fuor del mar" bräuchte es aber Stahl. Wenn sich Idomeneo am Ende des zweiten Akts gegen die Götter auflehnt, gibt er bei Breslik eine Stellungnahme zu den Akten ab: Ohne heroischen Gestus verpufft diese wichtige Stelle.
Zugegeben: Elegisches wie die Cavatina gelingt besser. Aber ein großer Koloratursänger und Stilist ist Breslik nicht. Unter dem Problem, dass schlanke Stimmen im Nationaltheater bestenfalls neutral wirken, leiden auch die im Timbre zum Verwechseln ähnliche Emily Sierra (Idamante) und Emily Pogorelc (Ilia). Nur Hanna-Elisabeth Müller kann Farben und Nuancen über die Rampe bringen. Allerdings darf gefragt werden, ob sich die Künstlerin mit dieser dramatischen Partie nicht überfordert. Wer die grelle Höllengelächter-Koloratur in der letzten Arie einmal von Edita Gruberova oder anderen furiosen Diven gehört hat, dürfte die sympathische Künstlerin außerdem etwas zu kühl und mondän finden.
Fast leid tun kann einem das Ensemblemitglied Jonas Hacker, der sich mit den beiden sonst gestrichenen, undankbaren und zugleich höchst anspruchsvollen Arien des Arbace abzumühen hat und das sehr wacker macht. Derlei Szenen verleihen dem Abend den Charakter einer Pflichtübung, weil nicht - wie in der Premiere unter Carydis - mit letzter Energie und Hingabe gespielt wird.
Das mag hart klingen. Aber nach den konzertanten "Idomeneo"-Aufführungen mit dem BR-Symphonieorchester unter Simon Rattle im Dezember wird diese Aufführung der Staatsoper noch schwächer wirken wie am Abend ihrer Wiederaufnahme. Insofern könnte es nicht schaden, wenn die Konkurrenz das Mozart-Repertoire der Staatsoper etwas beflügeln würde.
Wieder am 29. September, 2. Oktober sowie am 5. und 8. Juli 2024 im Nationaltheater. "Idomeneo" mit Simon Rattle am 16., 17. und 19. Dezember im Herkulessaal der Residenz