IHM in München: Zwischen Taiga und Digitalität

München - Der Norweger Sigurd Bronger erklärt eine schräg abgeschnittene Papprolle mit Anstecker zur Brosche. Die Chinesin Zixin Wei bearbeitet kostbarste Jadesteine und billigsten Tesafilm, so dass sie kaum zu unterscheiden sind, und formt eine Halskette draus. Während die im letzten Jahr verstorbene Italienerin Annamaria Zanella in ihren Schmuckstücken ganz in der Tradition der Arte Povera schlichte Werkstoffe wie Scherben, Muscheln, Nägel oder Plastikteile vereint.
Nachhaltige Kunst?
"Wir denken heute viel darüber nach, welche Materialien wir verwenden sollten – und welche nicht", sagt die britische Künstlerin Caroline Broadhead. Sie ist die Kuratorin der diesjährigen Sonderschau "Schmuck" in der Abteilung "Handwerk & Design" auf der heute beginnenden IHM auf dem Messegelände München.
Mit "wir" meint sie natürlich besonders, aber nicht nur, die 67 von ihr ausgewählten Teilnehmer aus 23 Ländern, die auf dieser weltweit beachteten Hochleistungsschau der Schmuckkunst versammelt sind. Warum? Weil dieser sogenannte "Autorenschmuck" etwas anders und auch mehr sein will, als ein dekoratives Ding.
Kritischer Blick auf "Pappkarton-Kultur"
Bongers leere Papprolle regt etwa zum Nachdenken über unsere von Bestellen und Retouren oder Lieferpizza geprägte Pappkarton-Kultur an. Im edelsten Fall endet die Verpackung hier als Brosche und nicht als Recycling-Pampe.
Zanella wiederum, die ihren billigen Werkstoffen eine prächtige Ausstrahlung anverwandelt, verweist darauf, dass auffälliger Schmuck nicht zwangsläufig mit teuren Edelmetallen oder -steinen in Verbindung stehen muss.
Sonderschau Schmuckwoche
Die Sonderschau auf der IHM, die seit rund 60 Jahren Künstler, Sammler, Galeristen, Studenten und sonstige Schmuckanhänger aus der ganzen Welt anzieht ist sozusagen der Nukleus der Schmuckwoche (auch: Munich Jewellery Week), die sich mit zahlreichen Ausstellungen und Veranstaltungen in der ganzen Stadt ausbreitet. Mit dabei sind dutzende Galerien, Museen und Geschäfte.
Sogar Kinos zeigen Schmuckfilme, das Hotel Mariandl am Beethovenplatz bietet drei Berliner Schmuckkünstlern Unterkunft und Präsentationsmöglichkeit – beim "Zimmerbesuch", wie die Ausstellung dort heißt. Die Neue Sammlung in der Pinakothek der Moderne ist (erst ab 12. März) mit Therese Hilbert unter dem Titel "Rot" und der Jerusalemer Bezalel Academy of Arts and Design unter dem Titel "Sagsoget.Alloy.Legierung" vertreten.
Messer, Gabel, Monstranz
In der Galerie Handwerk ist "Schmuck und Gerät" zu sehen. Unter "Gerät", ein Fachbegriff aus der Silberschmiedekunst, versteht man allerlei Gefäßarten von der Schale über die liturgischen Utensilien – etwa Monstranz, Ziborium, Patene – bis hin zu Messer, Gabel und Löffel oder freien Objekten.
Die fast 60 vorgestellten internationalen Gold- und Silberschmiede reagieren mit zum Teil neuesten Arbeiten auf das Thema.
Auch im Bayerischen Kunstgewerbeverein in der Pacellistraße 6 gibt es Schmuck. Die Südtirolerin Gabi Veit lässt sich vom Dorngestrüpp und anderen pflanzlichen Urgewächsen wie Blüten, Samenkapseln, Nussschalen inspirieren und formt dann etwa Löffel in Astform mit Blättern und spitzigen Dornen draus. Das ist natürlich nicht für den Gebrauch gedacht – sondern besitzt philosophische Aspekte.
Kunst, die mit Konventionen bricht
In der Galerie Artcurial, Galeriestraße 2 a, wird "Five Gentlemen Doing Things" gezeigt. Unter diesen Herren ist auch der Brite David Clarke. Er ist seit neuestem Professor an der Kunstakademie, der sich einen Dreck um Konventionen schert und wohl der frechste der Fünf ist – wozu auch Karl Fritsch mit seinen Ringen, David Bielander mit ironischen Tierwesen, der Fotograf Paul Kooiker und der Meister der Reduktion Rudolf Bott zählen.
Clarke, der auch im kommenden Herbst im Pforzheimer Schmuckmuseum in der Ausstellung "Auf Abwegen – Gerät und Schmuck am Rande der Vernunft" vertreten sein wird, baut etwa altes Tafelsilber skulptural um. So dass sich beim Anblick seiner Kreationen nicht etwa die Assoziation der verwendeten umgedrehten Becher, Hohlkörper oder alten Bestecke einstellt – sondern etwas geradezu Frivoles.
Neue Wege mit Recycling und Nachhaltigkeit
Stellt man das minimale Quentchen an schmutziger Phantasie mal hinten an, so verweisen die experimentellen Kreationen allerdings auf Themen und Tendenzen, die auch auf den Design-Sonderschauen Exempla und Talente festzustellen sind. Den Gestaltern ist ein Bezug zur Tradition wichtig, Recycling steht an, Nachhaltigkeit wird angepeilt – nicht selten im Zusammenspiel mit modernster Technologie.
Da lassen sich auch schöne Vergleiche anstellen. Etwa zum Thema Birkenholz. Ein spezielles Highlight der Exempla ist ein Birkenrinden-Kanu, das der in Laufen lebende sibirische Zimmerer und Bootsbauer Artem Lemberg kunstvoll nach einer geradezu steinzeitlich anmutenden Uralt-Technik in totaler Handarbeit mühevoll und mit hohem Zeitaufwand gemeinsam mit seiner bayerischen Frau baut.
Stühle aus dem 3D-Drucker
Zurück auf dem Messegelände kann man "Meister der Zukunft" sehen: einen Wettbewerb für junge Talente in Gestaltung und Technik. Er widmet 98 von einer Fachjury ausgewählte junge Teilnehmenden aus 24 Ländern eine Plattform. Hier sticht Matthias Gschwendtners Birkenstuhl ins Auge. Zuerst meint man, überzeugte Konsum-Verweigerer hätten ihn geschwind aus herumliegenden Ästen zusammengenagelt. Weil die charakteristischen Birkenrinden so auffällig zur Schau gestellt sind.
Aber: Während sich der Kollege Lemberg lange Zeit in seiner alten Heimat in der Taiga aufhielt, um dort von den noch informierten Altvorderen Näheres über die überlieferte Technik des Kanu-Baus in Erfahrung zu bringen, nutzt Gschwendtner für seinen "Log Chair" aufwendigste Computertechnik mit 3D-Scannern, algorithmischem Modellieren und einer 6-Achs Roboterfräse um ein urtümlich erscheinendes Design herzustellen.
Beim fertigen Kanu ist das verwendete Material dagegen nicht mehr zu erkennen. Beide Objekte sind Unikate, aber – bei aller natürlichen Anmutung – auf unterschiedlichste Art hergestellt. Lemberg, dem man übrigens beim Kanubau auf der Messe zuschauen kann, lässt an sein Holz nahezu kein Werkzeug ran. Gschwendtner nutzt hingegen modernste Technologie. Das ist moderne Postmoderne.
Abteilung "Handwerk & Design" auf der IHM hat ihre Sonderschauen in der Halle B1 vom 8. bis 12. März, von 9.30 bis 18 Uhr. Die zahlreichen Ausstellungen der Schmuckwoche laufen teils länger. Näheres im Schmuck Infopoint, Marienplatz 8, oder www. munichjewelleryweek.com.
Eine Broschüre ist runterzuladen unter: www.ihm-handwerk-design.com