Homer bis zum Untergang

Marathon im Marstall: Am drittem Adventswochenende liest das Ensemble des Staatsschauspiels das Epos vom Trojanischen Krieg in Raoul Schrotts Übersetzung
von  Abendzeitung

Marathon im Marstall: Am drittem Adventswochenende liest das Ensemble des Staatsschauspiels das Epos vom Trojanischen Krieg in Raoul Schrotts Übersetzung

Langstreckenlesungen haben Tradition beim Staatsschauspiel. Der Dichter und Übersetzer Raoul Schrott macht am Samstag um 10 Uhr den Anfang. Am späten Abend des gleichen Tages führt er in die „Ilias“ ein. Auch sein Verleger Michael Krüger macht mit.

AZ: Herr Dorn, warum lesen Sie als Einziger mehrere Gesänge?

DIETER DORN: Als Intendant ist man immer der Lückenfüller. Die Verhandlungen mit dem Ensemble waren schwierig – jeder hat eine Lieblingsstelle. Daher habe ich die Schauspieler nach dem ABC eingeteilt. Mit einigen Ausnahmen, weil abends gleichzeitig zur Lesung im Residenz Theater gespielt wird. Ich bin deshalb dort hineingeraten, wo es der Organisation am meisten diente.

Wer hat den langweiligen Schiffskatalog auf sich genommen?

Von dem haben wir uns getrennt.

Warum haben Sie sich für Schrotts umstrittene Version entschieden?

Ich wollte einen bewussten Kontrast zur deutschen Version der „Ilias“ von Wolfgang Schadewaldt, die Rolf Boysen 2003 in der Allerheiligenhofkirche vorgetragen hat. Schrotts Version ist sehr heutig. Sie springt einen an, ohne das Original zu beschädigen.

Schrott hat die „Ilias“ mit einer Soap verglichen.

Eine Soap ist kurz. Wir lesen das ganze Werk. Wer mag, kann bei freiem Eintritt kommen und soviel anhören wie er will. Jede Stunde wird von drei Schauspielern bestritten. Dann gibt es ein Atemholen.

Glauben Sie wie Schrott, dass Homer ein Eunuch in assyrischen Diensten war?

Mich begeistern solche Theorien – auch bei William Shakespeare. Aber es hilft nichts. Man muss sich dem Text stellen. Die Person des Dichters ist ohnehin zweitrangig: Je bedeutender ein Schriftsteller ist, desto enttäuschender sind persönliche Begegnungen.

Wie bereiten Ihren Kollegen und Sie sich auf die Lesung vor?

Viele lesen das ganze Epos, manche, ahne ich, nur ihren Gesang. Eine zu intensive Vorbereitung macht unspontan. Aber auch das Gegenteil ist gefährlich: George Tabori sollte einmal Achternbusch lesen. Er hat überhaupt nicht in den Text geschaut, und es ging schief.

Ihr Unternehmen ähnelt einem antiken Agon.

Das war ein Wettbewerb der Sänger. Auch bei uns ist jeder Schauspieler sich selbst überlassen und geht mit dem Text um, wie er möchte. Raoul Schrott wünschte sich, dass sich verschiedene Temperamente mit seiner Übersetzung auseinandersetzen.

Wie haben Sie Homer kennengelernt?

Schon als Schüler, in einer illustrierten Nacherzählung von Gustav Schwab. Ich hatte Angst vor Griechisch, das in meiner Heimatstadt Leipzig nur an der Thomasschule unterrichtet wurde. Deshalb war ich auf dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweig des Gymnasiums – das Schlimmste, was mir passieren konnte.

Haben Sie eine Lieblingsstelle?

Nein – ich liebe als Regisseur die Länge und das Ganze. Ich komme aus New York von der Wiederaufnahme meiner Inszenierung von „Tristan und Isolde“ an der Metropolitan Opera. Bei diesem Werk sind auch himmlische Längen zu überstehen. Barenboim hat zum ersten Mal dirigiert, James Levine saß im Zuschauerraum und gab ihm Tipps beim Tüfteln am Klang in diesem großen Haus.

Robert Braunmüller

Marstall, Sa + So ab 10 Uhr. Das Foyer ist durchgängig geöffnet. Der Einlass ist bei freiem Eintritt jederzeit möglich

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