„Heute lügt man anders“

In seinem Bestseller „39,90“ rechnete Frédéric Beigbeder mit der Werbewelt ab – und wurde gefeuert. Jetzt kommt die Verfilmung in die deutschen Kinos. Ein AZ-Interview mit dem Autor.
von  Abendzeitung

In seinem Bestseller „39,90“ rechnete Frédéric Beigbeder mit der Werbewelt ab – und wurde gefeuert. Jetzt kommt die Verfilmung in die deutschen Kinos. Ein AZ-Interview mit dem Autor.

Erfolg hat seinen moralischen Preis. Frédéric Beigbeder, kreativer Kopf einer Top-Werbefirma, wollte ihn eines Tages nicht mehr zahlen. Als Kampfansage gegen die Branche schrieb er 2000 ein Buch über einen Werbetexter namens Octave, der angesichts der Dummheit von Werbern und Kunden durchdreht – und befördert wird. Beigbeder hingegen wurde wegen seines Romans gefeuert. Zum Glück. Das Buch wurde ein Hit. Jan Kounen hat „39,90“ nun verfilmt, allein in Frankreich sahen den Film 1,3 Millionen Zuschauer.

AZ: Herr Beigbeder, wie fühlt es sich an, herumzureisen, Interviews zu geben, Werbung für diesen Film zu machen?

FRÉDÉRIC BEIGBEDER: Knifflige Frage. Ähnliches wurde ich damals zum Roman gefragt: Hey, Sie verkaufen eine Kritik über die Werbebranche, aber Sie benutzen die Werbung für Ihre Zwecke! Das ist wahr: Ich bin Octave, und Octave sieht ein wenig aus wie ich – wir sind Gefangene in dieser Konsumgesellschaft. Ein Weg, diesem Gefängnis zu entfliehen, ist, Geschichten darüber zu schreiben. Wenn man sie dann publiziert, muss man sie auch verkaufen und ist wieder gefangen. Aber es gibt einen Unterschied, ob man Joghurt, einen Roman oder einen Film verkauft.

Hat das Buch irgendetwas verändert?

Nein. Die Branche ist heute noch viel schlimmer, dümmer, frustrierender als im Jahr 2000. Die Klienten sind noch zynischer geworden, wobei manche Unternehmen kapieren, dass sie die Ökologie mit bedenken müssen. Sie lügen jetzt auf neue Weise.

In dem Film gibt es viele Anspielungen auf andere Filme wie „Blade Runner" oder „2001“. War das Ihr Wunsch?

Nein, das war Jan Kounen. Er ist ein Cinemaniac, er ist mit Bildern aufgewachsen. In meinem Buch gibt es Anspielungen auf Bücher von Easton Ellis oder Houellebecq. Werbung recycelt sich permanent selbst und die Bilder der Popkultur. Sie ist wie ein großer Magen, der jedes Fitzelchen der Kultur verdaut. Buch und Film machen das Gleiche.

Was Mann-Frau-Beziehungen in einer konsumorientierten Gesellschaft angeht, malen Buch und Film ein pessimistisches Bild. Hat sich Ihre Einstellung dazu verändert?

Ich versuche mein Bestes, aber es ist schwierig. Ich habe einen anderen Roman geschrieben, der heißt „Die Liebe währt drei Jahre“, und ich konnte niemals diesen Punkt, diese drei Jahre überschreiten. Vielleicht leben wir heute in einer Welt, in der die Liebe einfach nicht fürs ganze Leben gedacht ist. Vielleicht bin ich auch nur krank.

Octaves Freundin erzählt ihm, dass sie schwanger ist. Im Film sieht man, wie miserabel jeder Mann auf so eine Botschaft reagieren würde.

Das Faszinierende an Frauen ist, dass sie Außerirdische sind. Wir werden niemals verstehen, was in ihrem Kopf vor geht. Deshalb lieben wir sie, aber wir verstehen sie nicht. Ich denke, in einer logischen Welt wäre jeder homosexuell. Aber unglücklicherweise gibt es diese verrückte Sache namens Heterosexualität. Und ich bin ein Opfer davon.

Vermissen Sie Ihren Job?

Im Prozess dieses Films war es fast so, als ob ich immer noch diesen Job mache. Diese Meetings mit Produzenten! Ich dachte, es wäre wichtig, über Kokain zu sprechen, wenn es um diese Welt geht. Sie dachten, wenn wir zu viel Drogen im Film haben, können wir es nicht jüngeren Zuschauern zeigen. Ich bin meiner Agentur entkommen und in dieser Welt gelandet, in der es auch Menschen gibt, die dir sagen, was du tun und lassen sollst.

Deswegen hat es wohl auch so lange gedauert, bis der Film gemacht wurde.

Das hat ökonomische Gründe: Als wir bei TV-Sendern wegen der Finanzierung anfragten, meinten die: Seid ihr verrückt?! Wir werden keinen Penny für einen Film geben, der die Branche kritisiert. Werbung hält uns am Leben! ARTE und Canal Plus akzeptierten – weil sie nicht von Werbung abhängen. Es ist unheimlich: In dem Roman stelle ich Werbung als Form des Faschismus dar. Ich dachte, ich wäre paranoid. Aber es ist wahr.

Michael Stadler

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