Helmut Schmidt schlägt Bushido

In Frankfurt, auf der größten Bücherschau der Welt, gibt es Schund, Überflüssiges und überhaupt alles, was zwischen zwei Pappdeckel passt – und manchmal setzt sich sogar Qualität wirklich durch
von  Abendzeitung

In Frankfurt, auf der größten Bücherschau der Welt, gibt es Schund, Überflüssiges und überhaupt alles, was zwischen zwei Pappdeckel passt – und manchmal setzt sich sogar Qualität wirklich durch

Sie hat alle Angriffe der Konkurrenz überstanden. Seit März führt Charlotte Roche mit „Feuchtgebiete“ die Literatur-Bestsellerliste an. Sie war schon das Topthema bei der Leipziger Frühjahrsbuchmesse, nun, im Frankfurter Bücherherbst, ist aus dem Kopfschütteln der Branche so etwas wie Ehrfurcht geworden: Gegen die Sprache des Marktes – 1,2 Millionen verkaufte Exemplare – ist kein inhaltliches Argument mehr gewachsen. Roches Verlag DuMont setzt für das Weihnachtsgeschäft noch einen drauf: Eine „Feuchtgebiete“-Sonderausgabe mit 32 von Charlotte Roche angefertigten Zeichnungen.

Da kann Günter Grass, der seine Bücher traditionell mit selbst gefertigten Zeichnungen schmückt, einpacken. „Die Box“, sein von der Kritik zerfetzter, zweiter Teil der Lebensrückschau, ist ein Desaster. Konnte er mit dem SS-Mitgliedsskandal in „Beim Häuten der Zwiebel“ vor zwei Jahren noch Kasse machen und sich monatelang in den Top Ten festsetzen, so taucht der neue Grass wenige Wochen nach Erscheinen schon nicht mehr in den Top 50 auf.

Der Nobelpreisträger scheint seinen Kredit beim Leser verspielt zu haben. Aufs Altenteil braucht ihn der Buchmarkt dennoch nicht zu schicken, schließlich wird Grass am Donnerstag gerade mal 81 Jahre alt – und ist damit fast neun Jahre jünger als der Überraschungsstar der Stunde: Alt-Kanzler Helmut Schmidt. Je bescheidener die SPD in Umfragen dasteht, desto mythischer erscheint der Mann, der schon mit dem Putzen seiner Brille sein Interview-Gegenüber einschüchtern kann. „Außer Dienst“ (Siedler), seine „Bilanz“, hat in knapp zwei Wochen 180000 Exemplare verkauft: Eine Verdopplung bis Weihnachten ist eine konservative Schätzung.

Charlotte Roche muss jetzt auch noch zeichnen für ihre "Feuchtgebiete"

Schmidt, der sich in juveniler Protesthaltung auch das Rauchen an öffentlichen Orten nicht verbieten lässt, ist mit seiner Verbindung aus Arroganz und Geschichte längst ein drei Generationen umspannender Held der Deutschen geworden. Er verscheuchte ohne Mühe die großkotzige Biografie des Maulhelden Bushido vom Spitzenplatz der Sachbuch-Bestsellerliste.

Dass der Buchmarkt trotz zunehmender Konzentration und Marktausrichtung immer noch offen ist für riesige Überraschungen, beweist ein anderes Phänomen: „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“, fragte der bis zum Frühjahr eher unbekannte Kölner Autor und Redakteure Richard David Precht in seinem amüsanten Streifzug durch die Philosophie. Elke Heidenreich, die derzeit förmlich darum bettelt, ihre ZDF-„Lesen!“-Sendung nicht über den 31. Oktober hinaus fortsetzen zu müssen, lobte Precht und verhalf ihm mit ihrem Startschuss zu einem Millionenerfolg.

Heidenreich wird der Branche fehlen, sollte sie dem Fernsehen den Rücken kehren, sie war das mit Abstand wichtigste und messbarste Marketinginstrument. Gerade weil sie die Leute vor den Fernseher lockte, die niemals einen Blick in die zur Buchmesse erscheinenden Bücherbeilagen der großen Zeitungen werfen würden.

Literatur wird zur Randerscheinung

Aber eigentlich ist die Literatur in Frankfurt ja zunehmend eine Randerscheinung. Die Messe wird zum „Medienereignis“, jeder Fernsehkoch mit Begleitbuch bekommt mehr TV-Präsenz als die gedankenschweren Literaten, die viele Stunden einsam in den Messeständen ihrer Verlage hocken. Yoga- und Diätratgeber von halbwegs bekannten Schauspielern ziehen die Boulevardsendungen noch jeder politischen Diskussion über die innerpolitische Zerrissenheit des Gastlandes Türkei vor. Und selbstverständlich hat sich auch der unvermeidliche Dieter Bohlen wieder angekündigt, diesmal mit dem Karriereratgeber „Der Bohlenweg – Planieren statt sanieren“. Wer mehr als den Titel lesen möchte, dem ist wohl nicht mehr zu helfen, da kann man ja gleich zu Oliver Kahns „Ich“ (Platz 21) greifen.

Wirklich spannend wird in Frankfurt – neben der wirklich begrüßenswerten Auseinandersetzung mit türkischer Kultur und Gesellschaft – vor allem die Zukunftsfrage: Das E-Book verschreckt zwar noch keine Verlage und Buchhandlungen, aber ganz so technikfeindlich wie vor einem Jahrzehnt, als der erste Angriff aufs Papier kläglich scheiterte, scheint die Gesellschaft nicht mehr zu sein. Das Hightech-Spielzeug als Statussymbol funktioniert ja auch beim Mobiltelefon.

Dieter Bohlen ist natürlich auch wieder dabei

Auch das Internet, das bislang nie die behauptete Relevanz für Autoren bekommen hat, wird weiter diskutiert. Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek schrieb in diesem Jahr einen Roman nur für das Netz, und Bestsellerautor und Lebensweisheitsguru Paulo Coelho betont zur Messe, man solle das Internet als Chance und nicht als Bedrohung begreifen. „Je mehr man gibt, desto mehr gewinnt man“, sagte der Brasilianer, der freilich seinen Reichtum seinen über 50 Millionen auf herkömmliche Art vertriebenen Büchern verdankt. Coelho stellt seit Beginn dieses Jahres einmal im Monat einen seiner Titel ungekürzt online. „Die Leser sind keine rein passiven Empfänger mehr. Sie haben die Chance, eine aktivere Rolle zu spielen.“ Coelho hatte im vergangenen Jahr die Leser auf seiner Internet-Seite aufgefordert, sein Buch „Die Hexe von Portobello“ zum Film umzuarbeiten. Dabei kamen 14 Kurzfilme heraus. „Das Internet hat mich gelehrt, keine Angst davor zu haben, Ideen auszutauschen und andere dazu zu motivieren, ihre Ideen kund zu tun.“

Volker Isfort

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