Held von der traurigen Gestalt
Mit ironischer Lakonie lässt Wilhelm Genazino in seinem neuen Roman „Das Glück in glücksfernen Zeiten“ eine seiner tragischen Figuren auferstehen
Gerhard Warlich leidet. Aber weniger unter seinem langweiligen Job als Geschäftsführer einer Wäscherei, sondern eher daran, dass der feuchte Kassenbon unter seiner Tasse klebt, wenn er sie zum Mund führt. Denn Warlich ist ein Alltagsmelancholiker erster Güte, ein Verschrobener, den das Leben ungemein anstrengt. Einen solchen Charakter hat Wilhelm Genazino bereits in seinem Erfolgsroman „Mittelmäßiges Heimweh“ gezeichnet. „Das Glück in glücksfernen Zeiten“ lässt den Helden von der traurigen Gestalt wieder auferstehen – mit der für Genazino typischen ironischen Lakonie.
Dieser Don Quijote ist Doktor der Philosophie, lebt in Frankfurt und in einer Beziehung, die man nach allen geltenden Maßstäben als glücklich bezeichnen muss. Natürlich sieht er das anders, denn allein die Anwesenheit eines anderen Menschen überfordert ihn häufig. Warlich trägt gerne in Auflösung befindliche Kleidung, weil ihn das an seine kontinuierliche Selbstauflösung erinnert. Gerne würde er „halbtags leben“ – sich am Nachmittag vom Leben ausruhen. Doch die Chancen darauf stehen relativ schlecht: Seine Freundin Traudel denkt über ein Kind nach.
Natürlich ist Warlich dieser Perspektive nicht im Geringsten gewachsen. Es tritt das ein, was er selbst eine „innere melancholische Verwilderung“ nennt: „Ich hänge meiner alten Überzeugung nach, dass es für mich besser gewesen wäre, in einer Hundehütte auf den Alpen zu leben, aber nein, du musstest dich an den Rockzipfel einer hübschen aufstrebenden Frau klammern, jetzt kriegst du die Quittung.“
Als er einer Bekannten eine Brotscheibe zum Gruß reicht und in Tränen ausbricht, ist die Grenze des gesellschaftlich Verträglichen erreicht: Warlich wird in eine Klinik eingewiesen, wo es ihm aber gar nicht so schlecht gefällt.
Für Genazinos Verhältnisse ist das recht viel Handlung – doch eigentlich kommt es auf sie nicht an. Wichtiger sind Warlichs Streifzüge, Beobachtungen, Gedanken, die oft ausgesprochen komisch sind: „Das junge Paar links von mir saugt jetzt so heftig an seinen Trinkröhrchen, dass ich überlege, zu den beiden zu sagen: Ich gebe Ihnen fünf Euro, wenn Sie mit ihrem Geröchel sofort aufhören.“ Diese Gedanken erwachsen nicht aus Misanthropie, sondern aus Leiden an Details. Es ist ein bisschen wie bei Karl Valentin – der Leser zieht sein Amüsement aus der Tragik einer Figur, ohne sich darüber lustig zu machen. Hinzu kommt Genazinos geschliffene Sprache, die an sich schnörkellos ist, aber überaus pointiert mit einigen Wortkreationen, wenn er zum Beispiel vom „Billiggetümmel der Vorstädte“ schreibt. Ein wunderbares Buch für alle, die das Abseitige schätzen.
Julia Bähr
Wilhelm Genazino stellt sein Buch (Hanser, 17.90 Euro) im Literaturhaus vor: Do, 20 Uhr
- Themen:
- Karl Valentin
- Literaturhaus München