Heilig lüsterne Dekadenz
Ist es das Coming-Out eines stets bürgerlich-korrekten „Leistungs-Ethikers”, dessen „Gefühl erkältet” war? Gustav Aschenbach, der National-Schriftsteller, ist in einer Krise, ihn überkommt Reiselust, er hat einen exotischen Traum inspiriert von Henri Rousseaus „Traum”-Bild mit Dschungel-Tigerkatze. Aber wie erreicht man „über Nacht das Unvergleichliche”? Ab nach Venezia, der „schmeichlerisch Schönen”! Im schwarzen Gondel-Sarg lässt er sich vom „beutelschneiderischen” Fährmann auf den Lido übersetzen. Dort trifft er auf das unfassbar Jung(en)-Schöne, verfällt ihm, ist zu schwach, zu fliehen, kostet überreife Cholera-Erdbeeren und geht so wollüstig in den Untergang.
Das Liebesobjekt ist vielleicht 13 Jahre alt. Und: ein Knabe!
Das Liebesobjekt ist vielleicht 13 Jahre alt, ein Knabe, Tadzio. Die Schau im Literaturhaus zeigt den polnischen Vorbild-Knaben, den Thomas Mann bei seinem Aufenthalt 1911 im Grand Hotel Des Bains (siehe unten) gesehen hat. Wie kann es sein, dass ausgerechnet die Tabubruch-Novelle von 1912 zum meistgelesenen Werks Thomas Manns wurde?
Warum kein Skandal?
Die Ausstellung gibt eine interessante Antwort: „Das Bürgertum und die Kritik haben sich blind auf die Meisterhaftigkeit der Sprache und der Konstruktion gestürzt”, erklärt Kerstin Klein vom Lübecker Buddenbrookhaus, woher die Ausstellung stammt: „Das erotisch Problematische hatte Thomas Mann so stark in den damaligen Bildungskanon eingewoben – mit griechischer Mythologie und Platon –, dass der Skandal ausblieb.” Und die Homosexuellen der Zeit? „Die waren interessanterweise überhaupt nicht zufrieden”, sagt Dirk Heißerer, Vorsitzender des Thomas-Mann-Forums München: „Die Homoerotik wird in der Novelle mit dem Tod bestraft. Und das Coming-Out des Schriftstellers Aschenbach ist keines. Alles findet nur in seinem Kopf statt. Es gibt keinen Skandal.”
München als Ausgangspunkt
Die Ausstellung „Wollust des Untergangs – 100 Jahre Thomas Manns ,Der Tod in Venedig’” konzentriert sich ganz auf den Text: Man geht durch Zitate, so dass die Novelle durchschritten wird. Dazu hängen im Raum Bilderfahnen mit Abbildungen von Dingen, die in das Werk eingeflossen sind – wie die Treppenballustrade des Nordfriedhofs. Eine historische Aufnahme zeigt noch die flankierenden apokalyptischen „Viecher”, die in den 60er Jahren entfernt wurden und seither verschwunden sind.
Auch die Tram ist abgebildet, die vor der Blumenhandlung und Gärtnerei Brandl hält – damals die Nummer 10. Neben Sehen und Lesen verbindet ein Audioguide den Novellentext mit der Zeit- und Entstehungsgeschichte und Geheimnissen, wie das „höhere Abschreiben”, wie Thomas Mann es nannte, ohne Plagiatsprozesse heraufzubeschwören. In einer Vitrine liegt beispielsweise ein alter Brockhaus-Artikel zu „Cholera, trockene”.
Wenn man so durch die Ausstellung und Novelle schweift, begegnet man diesem beeindruckenden Stück Literatur auf höherer Verständnis-Ebene durch detektivische Aufschlüsselungen und spannende Lebens- und Zeit-Einbettung. Ein ganzer Kosmos tut sich auf. Wunderbar.
Literaturhaus am Salvatorplatz, bis 6.1., Di–Fr, 11–19 Uhr, Sa, So 10–18 Uhr, Eintritt 5 Euro (inkl. Audioguide)
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- Literaturhaus München
- Thomas Mann