Hassgeliebtes Weltdorf
Uwe Ochsenknecht stänkert gegen das saturierte München. Ihm fehlt die Subkultur, er beklagt den Kommerz. Ist Berlin wirklich so viel spannender? Was ist dran an der Polemik des Schauspielers? - Die AZ hat sich auf Spurensuche begeben.
Seine neue CD „Singer“ hat die Musikwelt nicht gerade aufgemischt, dafür rockt Uwe Ochsenknecht nun in Interviews: „München ist ein verschlafenes Nest. Es gibt keine Subkultur. Wenn etwas Neues auftaucht, wird es gleich verboten oder kommerzialisiert“, erklärte er der „Gala“. Deshalb tauscht er seine Nächte im Nest voller „Blender, die mit dem Porsche vors P1 fahren“ immer öfter gegen das inspirierende Bad im „brodelnden“ Berlin ein.
Und wirklich, der globalisierte Kommerz regiert in München: Gucci, Prada und Co. eröffnen im Stundentakt ihre Flagshop-Stores – und inszenieren sie als temporäre Knips-Bühne für Stars. Die subventionierte Hochkultur reibt sich zwar gewollt kreativ am Maximilianstraßen-Kapitalismus, doch letztlich bleibt sie ihm ästhetisch näher als dem herbeizitierten Bunnyhill. Sogar das Geld scheint in München glanzlos. Opernball? Nach zwei Versuchen gestrichen. Die sommerlichen Festspiele locken keine Zaungäste. Promis treffen sich seit jeher an den Bayreuther Luxus-Bratwurstbuden oder im Champagner-Erlebnisbad Salzburg.
München ging schon immer unter
Klagegesänge auf die konkurrenzlos gemütliche Stadt haben Tradition, ob bei Thomas Mann oder Theodor Fontane, der die Münchner als „geistig tot und verbiert“ erlebte. Trotzdem blieb dem Isar-Athen der Ruf als Kunststadt, selbst für radikale Neuerer wie die Mitglieder des „Blauen Reiter“.
Der Kunsthistoriker Richard Muther erklärte die Anziehungskraft: „Und mag er in einer Dachkammer hausen, mag er von Wein, Wurst und Rettichen sich nähren - er bleibt ein Künstler. Die ganze Atmosphäre ist hier von Kunst durchtränkt.“ Sogar Picasso empfahl 1897 einem Kollegen, in München Kunst zu studieren. Das Rezept dafür scheint bis heute gültig zu sein. Muther: „Man verlangt vom Künstler nichts. Man läßt ihn in Ruhe. Und das ist vielleicht das Beste, was er sich wünscht."
Und die Subkultur heute? Gibt es noch eine Isar-Avantgarde? Wo lebt die Bohème? Sie ist größtenteils weggezogen – an die Spree. Aber niedrige Mieten allein ergeben noch keine Kultur. In der als Kiez getarnten Großgalerie Mitte stolpert man alle zehn Meter in eine Horde nachhaltige Bionade saufende Lohas vor einem Raum mit unerklärlichen Bildern – und die internationale Kunsthalbwelt glaubt, dass es sich hierbei um bedeutende Subkultur handeln müsse.
Für Chris Dercon vom Haus der Kunst ist der Standort Berlin so gut wie tot: „Das sind zigtausende junge Kreative ohne Geld, die ständig Bewerbungsmappen und E-Mails nach München schicken! Es wird bald eine große Massenflucht einsetzen - ein Kinderkreuzzug! Zu Fuß, in zerrissenen Adidas-Anzügen, kaputte I-Books unterm Arm, so werden sie in andere Städte flüchten, auch nach München. Sie werden sich auf dem Marienplatz versammeln und für ein Minimaleinkommen demonstrieren!“, sagt er der „SZ“.
Wahnmoching ist Geschichte
Dabei ist seit Lenins Wegzug auch aus Schwabing der Geist entschwunden. Auf der Leopoldstraße schlürfen oberpfälzische Strizzis am Wochenende bunte Getränke aus putzeimergroßen Cocktailgläsern und lassen ihre Ferraris aufheulen. Innerstädtisch altgediente Bohème-Sammelbecken wie das Sugar Shack wagen den Neubeginn – und entpuppen sich bereits am Eröffnungsabend als Ü-60-Disco. Ein Trend! Da hat München endlich die Nase vor der Hauptstadt der Bouletten und des Flaschenbiers.
Immerhin ist das Haus der Kunst noch kein Seitenflügel des P1. Sondern ein Ort, an dem sich die Avantgarde, wenn auch meist die von gestern, in Hochkultur verwandelt. Dercon lädt die wichtigsten, manchmal auch sonderbarsten, Vor- und Nachdenker der Welt in sein Haus ein wie Alexander Kluge oder Rem Koolhaas – und hat nicht zuletzt den Münchner Maler Florian Süssmayr aus der Subkultur gehievt. Wenn sich am 3. Advent Patti Smith und Christoph Schlingensief dort begegnen, ergibt das nicht unbedingt die Neuerfindung der Talkshow, aber sicher eine denkwürdige Performance. Stefan Kalmárs Kunstverein wiederum holt die internationale Avantgarde, zuletzt Allora & Calzadilla und Liam Gillick, an den Hofgarten.
Die Au und das Westend sind, was früher Schwabing war
Aber auch Münchens Untergrund lebt: Das Ungekünstelte, überraschend Innovative blüht noch zwischen Au und Westend – man muss es halt finden und erkennen. Auch wenn Neugier den mit barocker Bildhaftigkeit verwöhnten und spätestens durch Ludwig I. zu kollektivem Kunstsinn gezwungenen Münchnern besonders schwer fällt.
Früher war vielleicht alles besser, aber gemerkt hat es damals auch keiner. Erst der Rückblick schärft die Sinne. Herbert Achternbusch, die personifizierte Subkultur, wohnt heute sogar in einer städtischen Wohnung. München hat eben doch ein großes Herz: Auch für Künstler, die der Stadt, die sie kaputtgemacht hat, ewige Rache schwören.
RBR, rri, vi
Avantgarde Top 10
Alles Mainstream? Doch nicht an der Isar! Hier gibt es die höchste Dichte der vor sich hinwerkelnden Zunftgenossen, eine – teilweise städtisch und staatlich geförderte – Szene, die sich seit Menschengedenken aus den immer gleichen Figuren rekrutiert. Eine quasi-verbeamtete Avantgarde.
1. HERBERT ACHTERNBUSCH (Gesamtkunstwerk): Das Gespenst kam nur bis zur Burgstraße
2. JOSEF ANTON RIEDL (Klangbastler): Seit einem halben Jahrhundert Münchens John Cage
3. BEATE PASSOW (Kamera-Kameradin): Ihre Kunst macht die Szene immer wieder betroffen
4. PAUL WÜHR (Schriftgelehrter aus Umbrien): Schrieb tausend Seiten „Gegenmünchen“ (Hanser)
5. MICHA PURUCKER (Tanzmensch): Münchens ewig gefördertster Hopser
6. RUTH GEIERSBERGER (Performerin, schrill!): Wahnsinnig provokative „Verrichtungen“!
7. WOLFRAM KASTNER (Gutmeinender): "Kunst, die stört und sich einmischt“ (Homepage)
8. KLAUS LEMKE (Autorenfilmer): Er filmt und filmt und filmt – ohne Geld und Publikum
9. FLATZ (Selbst-Demonteur): Kühe, Porsche, Glocken und Mein Kampfhund
10. ALEXEIJ SAGERER (Russe aus Plattling): Seit 1977 gefördert, warum, weiß nur das Kulturreferat