Handeln statt twittern: Geschwister-Scholl-Preis für Dina Nayeri
München - Mit einem Jahr Verspätung konnte am Freitag die iranisch-amerikanische Autorin Dina Nayeri in München den Geschwister-Scholl-Preis für ihr Buch "Der undankbare Flüchtling" entgegennehmen. In diesem Buch erzählt Nayeri von der eigenen Flucht aus dem Iran mit ihrer als Christin verfolgten Mutter und ihrem Bruder im Jahr 1988, ihrem Aufenthalt im Flüchtlingslager in Italien und dem Neuanfang in den USA. Daneben berichtet Nayeri über ihre Recherchen in europäischen Flüchtlingscamps und erzählt bewegend und authentisch von gescheiterten und erfolgreichen Versuchen, die Abschottung der westlichen Welt zu überwinden.
AZ: Frau Nayeri, Sie schreiben von der Zumutung, als Flüchtling Wohltätigkeiten empfangen zu müssen ist.
DINA NAYERI: Natürlich ist das zunächst eine tolle Sache, wenn Dir jemand etwas gibt. Aber wenn du permanent Hilfe akzeptieren musst, dann ist das schwierig, vor allen Dingen, wenn du ein respektiertes Mitglied in der Gesellschaft waren, aus der du fliehen musstest. Es deprimiert auf Dauer, schwächt das Selbstbewusstsein und die Motivation. Wir müssen umdenken und Flüchtlingen schneller die Gelegenheit bieten, ihre Talente zu entfalten, nützlich für die Gesellschaft sein zu dürfen.
Gab es den Moment, in dem Sie sich frei fühlten?
Als ich aus Oklahoma an die Universität gewechselt bin. Ich habe wirklich so hart daran gearbeitet, in Amerika dazuzugehören, aber das funktioniert nicht vollständig, wenn alle dich noch als Flüchtling kennengelernt haben. Auf der Universität in einer anderen Stadt konnte ich mich ohne diese Vorgeschichte neu erfinden. Ich wollte nichts mehr über den Iran hören. Ich wollte einfach ein normales, amerikanisches Mädchen sein. Die meisten habe mich ohnehin für eine Latina gehalten und das hat mir wirklich gefallen.
"Da kommen längst verdrängte Gefühle wieder hoch"
Was haben Sie gedacht, als Sie die chaotischen Bilder vom Kabuler Flughafen gesehen haben?
Ehrlich gesagt, kommen da viele längst verdrängte Gefühle wieder hoch, auch das der Angst. Ich habe als Kind zwei Jahre lang durchgehend miterlebt, dass nie sicher war, ob wir in den Iran zurück müssten, wo meine Mutter vielleicht getötet worden wäre, oder doch irgendwo eine neue Zukunft beginnen könnten. Das ist ein Leben im Purgatorium. Ich weiß noch genau, wie wir von Italien aus nach Amerika fliegen durften. Als die Durchsage kam, wir würden jetzt den US-Luftraum betreten, fiel von uns die Spannung ab. Wir haben uns zum ersten Mal wieder sicher gefühlt. Jetzt mitzuerleben, wie es in Afghanistan so viele nicht in die Sicherheit geschafft haben, ist eine Katastrophe.
Letzte Woche hat die EU gesagt, sie wolle 42.000 afghanische Flüchtlinge aufnehmen.
Das sind viel zu wenige, aber wir wissen ja, wie schnell die Menschheit vergisst. Vor sechs Wochen hat die ganze Welt mitgefiebert, alle waren berührt und haben ihr Mitgefühl über Twitter mitgeteilt. Und das ist das Schlimme: Twitter gibt den Menschen das Gefühl, sie hätten mit einer Sympathieäußerung etwas getan. Sie haben aber genau gar nichts getan! Das Leid findet im richtigen Leben statt. Es ist zudem beschämend, wie die westlichen Medien über Krisengebiete berichten: ein paar Tage rund um die Uhr und Wochen später ist dann alles vergessen.
Aber das Migrationsproblem wird bleiben.
Es ist ein globales Problem, das es immer gegeben hat und das es immer geben wird. Wir brauchen einen Mentalitätswandel. In "Die Theorie der Gerechtigkeit" entwirft John Rawls ein Gedankenspiel: Sie befinden sich vor ihrer Geburt im "Urzustand" hinter einem "Schleier des Nichtwissens" und wissen nicht, in welche Gesellschaft sie hineingeboren werden. Welche würden Sie sich wünschen? Das ist die, die wir gestalten sollten. Man würde sich keine Gesellschaft ausdenken, in der die reichsten Länder sich alles für sich selber sichern und die Türen vor den Armen schließen, keine Welt, in der es Kriege gibt. Das wäre das Ideal, aber wir werden diese gerechte Welt ohne Grenzen wohl nicht hinbekommen.
Sind Sie entmutigt?
Nein, aber wir brauchen praktische Lösungen: Menschen, die auf Asyl warten, müssen arbeiten dürfen. Wir müssen akzeptieren, dass es legal ist, ein Land zu betreten und einen Asylantrag zu stellen. Wir müssen die Kinder in den Camps unterrichten. Ich habe viel in Flüchtlingscamps recherchiert und man kann beobachten, wie aus aufgeweckten, neugierigen Kindern nach Jahren im Wartesaal, einem Leben ohne Schule, Anregungen und Chancen auch apathische Kinder werden.
Sie waren selber als Kind im Flüchtlingscamp von der Schule ausgeschlossen.
Ja, fast ein Jahr. Aber meine Mutter hat uns sofort von einer privaten Schule alte Bücher besorgt, die Lösungen in den Übungen ausradiert und uns zu einem systematischen Lernen animiert. Aber nicht jede Mutter kann und tut so etwas.
Sie schreiben, dass wir die Genfer Konventionen überarbeiten müssen.
Die Genfer Konvention sind über sieben Jahrzehnte alt und aus den Erfahrungen nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Wir haben aktuell und künftig Migrationsströme aufgrund des Klimas, aufgrund von Bandenherrschaft wie in Mittelamerika, aufgrund lebensbedrohlicher Armut: Keiner diese Punkte ist in den Genfer Konventionen erwähnt. Langfristig müssen wir endlich etwas gegen die globale Ungleichheit tun: Warum lassen wir es zu, dass es Milliardäre gibt, die zudem ihr Vermögen noch in Steueroasen schützen können? Was uns die Panama- und die Pandora-Paper zeigen, ist doch das perverse Ausmaß und die Verantwortungslosigkeit des Reichtums. Wir brauchen keine Weltraumtouristen, lasst uns besser die Probleme auf der Erde lösen.
Dina Nayeri: "Der undankbare Flüchtling" (Kein & Aber, 400 Seiten, 24 Euro)
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