Günter Grass: Unser Mahner und Warner

Am Montagfrüh starb Günter Grass im Kreis seiner Familie in einem Lübecker Krankenhaus an einer schweren Infektion.
von  az

Lübeck - Noch am 28. März hatte Günter Grass im Hamburger Thalia Theater die Uraufführung einer neuen Bühnenfassung seines Romans „Die Blechtrommel“ mit seiner Frau besucht und mit dem Ensemble auf der Bühne den Schlussapplaus entgegengenommen. „An der Premierenfeier, bei der auch viele seiner eigenen Kinder dabei waren, nahm er noch mit großem Vergnügen teil“, sagte seine Sekretärin Hilke Ohsoling. „Es war sein letzter großer Auftritt in der Öffentlichkeit.“

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Grass war über Jahrzehnte der bedeutendste deutsche Autor und einer der wenigen, die auch im Ausland Leserschaft und Gehör fand. Salman Rushdie und John Irving, zwei Autorenfreunde von Weltrang, wurden nie müde, den Grass’schen Einfluss auf ihre eigene Arbeit zu untermauern.

Erinnerungsarbeit über deutsche Schuld und die literarische Kompensation des Heimatverlustes prägen das gewaltige Werk von Grass. Nicht nur in der „Danziger Trilogie“, zu der neben der „Blechtrommel“ auch „Katz und Maus“ und „Hundejahre“ gehören, sondern auch in der Novelle „Im Krebsgang“ über das Schicksal der Vertriebenen am Beispiel des Untergangs der „Wihelm Gustloff“ 1945 mit Tausenden Flüchtlingen an Bord in der Ostsee.

Schwierige Erinnerungsarbeit leistete Nobelpreisträger Grass in eigener Sache spät auch in seiner Autobiografie „Beim Häuten der Zwiebel“ (2006). Erstmals berichtete er hier über seine kurze Zeit bei der Waffen SS wenige Monate vor Kriegsende.

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Schon mit zwölf Jahren wollte Grass Künstler werden. Es habe wohl in den Genen gelegen, sagte er einmal. Und so studierte er zunächst in Düsseldorf und Berlin an den Kunsthochschulen und arbeitete zeitlebens auch als Bildhauer, Zeichner und Maler. Seinen frühen Erfolg als Schriftsteller nach dem Zweiten Weltkrieg empfand der Sohn sogenannter kleiner Leute aus dem Danziger Vorort Langfuhr selber als märchenhaft.

Mit seiner damaligen Frau Anna, einer Schweizer Ballettstudentin, zieht er 1956 nach Paris. In den drei Pariser Jahren entsteht am Stehpult im feuchten Heizungsraum eines Hinterhofanbaus der Roman „Die Blechtrommel“. Deren kleiner Protagonist Oskar Matzerath begeistert 1958 bereits bei einer Lesung die Schriftstellergruppe 47. Grass trägt aus seinem fast fertigen Roman vor, gewinnt den Preis von damals gewaltigen 4500 Mark. Mehr als 40 Jahre später erhält er 1999 ebenfalls für „Die Blechtrommel“, jenen Schelmenroman über die jüngere deutsche Geschichte, den Literaturnobelpreis.

Untrennbar blieb für Grass sein Handeln als Schriftsteller und als Bürger. Seine politische Heimat wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die Sozialdemokratie. Reformen in kleinen Schritten, nicht der vermeintlich große Wurf einer Ideologie, lautete Grass’ politische Überzeugung. Willy Brandt, den damaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin, unterstützte er seit Anfang der 1960er Jahre.

Aussöhnung mit Polen, Gerechtigkeit im Nord-Süd-Konflikt, das Elend in Kalkutta, eine gerechtere deutsche Wiedervereinigung, Engagement für verfolgte Autoren weltweit, die Golfkriege, Gefahren der Atomenergie oder der Nahostkonflikt – Grass meldete sich nahezu zu jedem wichtigen Thema zu Wort. Das brachte ihm Anerkennung, Neider und Feinde: „Kaum jemand lag mit seinen Analysen so oft und so gründlich daneben, und kaum jemand wird für sein ständiges Danebengreifen so verehrt wie Grass“, polemisierte Henryk M. Broder einmal.

Hinter den heftigen Diskussionen des Literaturtheaters ist der Mensch Grass weniger wahrgenommen worden. Er diagnostizierte sich noch im Alter von 81 Jahren einen Mutterkomplex: „Für mich war es der Tod meiner Mutter mit 57 Jahren an Krebs. Ich habe ihr die in mich gesetzten Hoffnungen nie beweisen können. Sie hat schwärmerisch, fast romantisch an mich geglaubt, im Gegensatz zu meinen Vater, der meinte, der Junge spinnt. Auf meinem Grabstein wird stehen: ,Hier liegt Günter Grass mit seinem Mutterkomplex, unbehandelt.’“

Von drei Partnerinnen hat Grass insgesamt sechs Kinder. Seine zweite Frau Ute Grunert brachte selber zwei Kinder in die Familie mit, 1979 wurde geheiratet. Grass war ein Familientier. Die Enkelschar der Patchworkfamilie wuchs im Laufe der Jahre, die Grass im Sommer im Ferienhaus auf der dänischen Insel Møn verbrachte, im Winter lebte er im Ferienhaus in Portugal. Stammsitz wurde ein altes Haus mit Arbeitsatelier in Behlendorf bei Lübeck. Dort schrieb Grass per Hand und tippte dann seine Manuskripte auf einer alten Olivetti.

Wenige haben so provoziert wie Grass, selbst noch im hohen Alter. Für sein Israel-kritischen Gedicht „Was gesagt werden muss“ (2012) erklärte ihn Israel zur unerwünschten Person. Kurze Zeit später legte sich Grass mit Oskar Lafontaine an („Es gab in der Geschichte der sozialdemokratischen Partei keinen schmierigeren Verrat wie den von Lafontaine an seinen Genossen“) und wetterte gegen die Griechenland-Politik der EU. Ohne Grass wird der Literaturzirkus nun leiser werden – und deutlich langweiliger.

 

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