Gudden, die Lederwurst und Rosenstengel
In der Allerheiligen Hofkirche ging es gestern zu wie im Literarischen Quartett zu seinen besten Zeiten, aber diemal als Terzett. Die Sieger des Bayerischen Buchpreises wurden in einer öffentlichen Jurysitzung live auf offener Bühne ermittelt. Juroren Franziska Augstein und Carolin Emcke und Denis Scheck lieferten sich dabei charmate Zickenkreige und intelligente Schlachten. In der Sparte Belletristik gewann der Roman mit Bayernbezug "Rosenstengel":
Eine Frau, die 1705 in Männerkleidern Militärkarriere macht und der perfide Staatsstreich gegen König Ludwig 1886: Der Roman "Rosenstengel" verknüpft diese beiden Skandale mit Politik, religiösem Fanatismus, korrupten Ärtzen und die Juristerei. Dabei könnte man aufstöhnen! Denn es ist ein Briefroman – wie antiquiert! Und dann noch zu einem Drittel in einem Deutsch, das wir aus der Zeit von Johann Sebastian Bach kennen, der übrigens mit Textzeilen der Matthäuspassion sehr diskret eingewoben ist.
Aber sofort passiert ein Lesewunder. Die Briefe, die pietistische Pastoren und ihre liberalen Gegner, Militärs, Juristen und Ärzte über den Skandal der Catharina Linck verfassen, sind ein wahrer Krimi: Diese junge Frau aus einem pietistischen Hallenser Waisenhaus bringt es in Männerkleidung bis zum Musketier im Spanischen Erbfolgekrieg und heiratet unter dem Namen Anastasius Rosenstengel eine Frau. Gemeinsam ziehen sie als Endzeitpropheten mit tranceartigen Gotteseingebungen bettelnd durch die Lande und begeistern Erweckungsgläubige. Aber Rosenstengel wird schließlich von der missgünstig misstrauischen Schwiegermutter überfallen, enttarnt, entblößt und 1722 vor den Inquisitionsrichter gezerrt.
Eine Lederwurst kam täuschend echt zum sexuellen Einsatz
So schreibt zum Beispiel der preußische General an einen liberalen Aufklärer: Ein „extraordinairer Fall“ schenkt ihm „die glückliche Occasion“ zu berichten, dass „drey Musketiere entwichen, so bey Antwerpen wieder gefangen und zurücke gebracht. Weillen die Fahnenflucht ohne Unterscheid durch den Tod mit dem Strange zu bestraffen, ward sogleich der Galgen errichtet, das Exempel zu statuiren. Nachdem der Hencker den ersten kürtzlich abgefertigt, bat der zweyte Haluncke, ein junger Milchbart, mit dem Prediger noch reden zu dürffen.“
Der Soldat entblößt seinen Waffenrock, nimmt ein Blech, das seine Brust zusammendrückt, ab und zeigt seine Brüste und die weibliche Scham. Das Dilemma: Eine Frau kann kein Soldat sein, also auch nicht desertieren, oder? Und sexuell? Kann eine Frau ohne Glied mit einer anderen Frau überhaupt Unzucht treiben? Aber Catharina Linck hatte sich als Rosenstengel eine kunstvoll selbstgebastelte Lederwurst umgebunden, die recht funktionstüchtig gewesen sein muss. Ein theologisches, juristisches, medizinisches Scharmützel zwischen Hardlinern und Liberalen beginnt.
Schon nach wenigen Sätzen ist man so eingelesen, dass das Sperrige der Sprache um 1715 sich verwandelt in deftige Eleganz, die letztlich viel klarer wirkt, als das blumig gewundene Professoren- und Märchenkönigs-Deutsch der Gründerzeit, das dann den Großteil des Romans „Rosenstengel“ ausmacht. Zwischen Neuschwanstein, Nervenheilanstalten und der Residenzstadt München laufen hier die Postdrähte und -kutschen heiß.
Der junge Psychiater gewinnt nächtlich König Ludwigs Vertrauen
Wie aber verknüpft die Autorin Angela Steidele diese zwei Zeitebenen? Schließlich ziert das Buch vorne die barocke Gerichtsaktenzeichnung der „Weibsperson“ Catharina Linck 1713 als Soldat unter dem Namen Anastasius Rosenstengel. Aber auf der Rückseite prangt gülden unser spätromantischer König Ludwig.
Zu ihm schlägt der Briefroman den Bogen über die Psychiatrie. Und wir landen auch im Schloss Fürstenried, wo der schwer geisteskranke Otto interniert ist. Der König will den besten Arzt für seinen armen Bruder und heuert dafür über den Leiter der oberbayerischen Irrenanstalten Berhard Gudden einen Dr. Müller an. Der hat ein Steckenpferd: Historische Fälle „sexueller Conträr-Orientierung“. Und eines Nachts bei einer Audienz auf Schloss Neuschwanstein kommen der junge Arzt und der König in ein Gespräch über diesen kuriosen Fall der Catharina Linck, dann über die Kunst und letztlich die Politik. Müller gewinnt das intime Vertrauen des schwärmerischen, gleichzeitig desillusionierten Königs.
Was die Sache zunehmend spannend macht: Müller weiß nicht, das Gudden ihn auf den König angesetzt hat. Der König wiederum weiß nicht, was sich um ihn zusammenbraut. Gudden selbst ist durch einen ärztlichen Kunstfehler mit sechs Toten erpressbar und kooperiert mit Luitpold. Der wiederum will nicht nur die Privatfinanzen der Wittelsbacher retten, sondern betreibt die Absetzung des bau-süchtigen Ludwig mittels psychiatrischer Gutachten: ein unfassbarer Intrigantenstadl um Freundschaft, Karriere, Politik und Verrat mit einem Staatsstreich zum Schluss. Und man fragt: Wo hat die Autorin Angela Steidele bei allen bekannten Fakten diese intimen Bekenntnisse und Erkenntnisse her? Sind die Briefe nun erfunden oder in Archiven gefunden?
Beides zugleich und weder noch! Denn hier treibt die Bruchsaler Wahl-Kölnerin Steidele ein phantasievolles Spiel mit uns Lesern: Jede der Personen hat es historisch wirklich gegeben – und wenn einmal doch nicht, ist sie aus mehreren wirklichen zusammengesetzt. Und die Briefe? Manche sind echt – und die anderen aus echten Schriften der Personen kompiliert. So bekommt „Rosenstenge: Ein Manuskript aus dem Umfeld Ludwig II.“ Glaubwürdigkeits-Wucht.
Und was die eigentlich ausgestorbene Form des Briefromans anbelangt? Hier kann man erleben, wie man als Leser zum Detektiv wird. Man puzzelt sich die spannenden Kriminalfälle zusammen, weil man beim Lesen immer mehr weiß als die einzelnen Briefverfasser. Bei allem historischen Vergnügen werden auch ganz moderne Lebensfragen gestellt, die schon Grönemeyer besang: Wann ist ein Mann ein Mann? (Oder hier: eine Frau eine Frau?) Wie hält man’s mit Homoehe oder der Religion?
Und dann die besonders uns Bayern umtreibende Frage: Wie war das denn 1886 mit Ludwig, dessen einziger „Fehler“ das Ziel gewesen zu sein scheint, sein verzweifeltes Leben zu einem Gesamtkunstwerk umzubauen. Nur hatte das in einer wissenschaftlich-kapitalistischen Welt keinen Raum. Sehr aktuell.
Angela Steidele: „Rosenstengel“ (Matthes & Seitz, 370 S., 28 Euro)
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