Große Sockenschublade
Tot liegt der Mann da und hat doch nie gelebt. Seine Umgebung ist gezeichnet, er selbst auch. Lang ist’s her, dass Matt Mullican aus Comic-Heften Einzelbilder ausgeschnitten hat, in denen Charaktere nach ihrem Tod zu sehen sind. Und natürlich haben diese Figuren vor dem Sterben einen Lebensweg zurückgelegt, der nur eine Variation des unsrigen sein kann, nur eben in einer imaginären Realität. Eine ganze Welt wartet hinter der Comic-Leiche.
Die „Dead Comic Book Characters” aus den Siebzigern, sie gehören zu den unzähligen Details der überwältigenden Mullican-Schau im Haus der Kunst. Aber es sind nun mal die kleinen Dinge, die für den Amerikaner ein Verständnis für das Universum aufschließen. Denn es ist ein gigantisches, ganz schön vermessenes Lebenskunstprojekt, das der Kalifornier seit vier Dekaden verfolgt. Der Titel „Vom Ordnen der Welt” zeugt von der allumfassenden Ausrichtung – und der Ausstellung, die einen Bogen von den Siebzigern ins Heute spannt.
Bereits der erste Raum des Ostflügels überschwemmt mit einer Informationsflut: Über 1000 Zeichnungen, Collagen und vieles mehr hängen in einer Rauminstallation. Alles ist Baustein einer Kosmologie, die sich am Boden in einer riesigen Frottage buchstäblich als Grundierung der Schau eröffnet. Es ist Mullicans persönlicher Wegweiser für das Verstehen der Welt. Fünf Bereiche, gespickt mit Piktogrammen und symbolhaften Darstellungen, werden durch Farben markiert, von Blau für die materiellen Gegebenheiten bis Rot für subjektive Gedanken und Gefühle.
Über die Jahrzehnte hat der 1951 in Santa Barbara geborene, heute in Berlin und New York lebende Künstler dieses System geschaffen. Sein Verlangen, wirklich alles zu begreifen, drückt sich in einem manischen Systematisierungsdrang aus. In einem Raum sind Abbildungen der „Edinburgh Encyclopedia” von 1830 zu sehen, von Mullican in den Neunzigern in 449 Magnesiumplatten geätzt. Es wird versucht, jedes Lebewesen und jeden Gegenstand zu kategorisieren. Irgendwie ist diese Ordnungswut allzu menschlich: Man bewahrt seine Socken auch in einer bestimmten Schublade auf.
Vieles von Mullicans Kunst wirkt schlicht. Ganze Denksysteme stecken in Symbolen, und vom Einfachen stößt er zu komplexen Ideen vor. Was recht betrachterfreundlich ist. Man findet leicht Zugang zu den Piktogrammen, symbolische Hinweise (eine Zigarette als Zeichen fürs Rauchen), die der schwarz-weißen Ebene der Sprache angehören. Oder zu den Comics. Oder zu Strichmännchen Glen, dessen Empfinden Mullican in Bildserien erforscht.
Die Suche nach Sinn ist auch eine nach dem Inneren des Anderen, von Glen oder „jener Person”, deren Identität Mullican bei seinen Performances unter Hypnose annimmt. Was er in diesen Sessions mit „that person” gemalt und collagiert hat, kann man in einem „Pavillon” sowie einem Labyrinth aus 85 Leinenbettlaken entdecken. Auf Videos sieht man Mullican in Trance – auch die Winkel des Unbewussten lotet er aus. Und doch: Für Momente gewinnt man den Eindruck, dass hinter seiner akribischen Vermessung der Welt und des Ichs eigentlich eine andere Sehnsucht liegt: die Realität hinter sich zu bringen, sich selbst zu vergessen.
Haus der Kunst, bis 11.9., Mo bis So, 10 – 20 Uhr, Do 10 – 22 Uhr. Am 10. 7., 19 Uhr, performt der Künstler unter Hypnose