Gott und die Masken der Dinge

„Pulp Head“ – die Essay-Sammlung des US-Journalisten John Jeremiah Sullivan  
Christian Jooß |
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„Pulp Head“ – die Essay-Sammlung des US-Journalisten John Jeremiah Sullivan

Vor ein paar Tagen kam dem Rezensenten das Buch „Typisch Thai: Alltagskultur in Thailand“ in die Hände. Autor Philip Cornwel-Smith und Fotograf John Goss stellen eine animistische Gesellschaft vor, in der selbst die Form der Bolzen, die Lastwagen zusammenhalten, etwas aussagt. Am Ende der Lektüre spannt sich ein Netz von Bedeutungsschnüren durch ein Land, das auf den ersten Blick schön bunt erscheint.

„Pulp Head. Vom Ende Amerikas“ heißt der jetzt auf Deutsch erschienene Essay-Band von John Jeremiah Sullivan, der als Journalist unter anderem für das „New York Times Magazine“ und „Gentlemen’s Quartely“ schreibt. Ein Familienausflug zwingt ihn, nach Orlando zu pilgern: Disney World. Das lässt sich aushalten, findet Sullivan, wenn man mit dem mitreisenden Freund im Internet gefahrlose Plätze zum Kiffen ausfindig gemacht hat. Wobei der Drogenkonsum hier in seinem rituellen Charakter auf eine Bewusstseinsebene führt, die hinter der Fassadenwelt etwas wissen lässt. Was der Besucher sieht, sind winkende Comicfiguren. Was er nicht sieht, ist das Röhrensystem im Erdgeschoss, das Auf- und Abtritte verbirgt und so die Erscheinungen möglich macht.

Im Pulp Head, diesem Matschkopf, hat sich ein Gebräu aus Alltagspopkultur, Geschichte und Geschichten und eigener Biografie gesammelt. Ein Bilderbrei, deren oberflächliche Blüte, die wir sehen, noch nichts erzählt. Sullivan steigt ein in die Höhlen in Tennessee, in denen eine Kultur ihre Bilder hinterlassen hat, bevor die Einwanderer das Land nach ihren Wünschen formten. Er erzählt von seinem Leben in einem Haus, in dem Teile der Fernsehserie „One Tree Hill“ gedreht wurden, davon, wie sich beim Auszug des TV-Teams Kulisse und eigene Möbel mischen. Und wenn er den Miz trifft, Star der Reality-Show „The Real World“, der als Abbild seiner selbst in Clubs das Partyleben zu seinem eigenen gemacht hat, sind das Science-Fiction-Momente, die viel über das Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem erzählen.

Nicht immer bringt Sullivan, der hemmungslose Einlasser, so die Welt zum Schweben. Der alte Freund von Axl Rose, den er auftut, reicht nur für einen Lichtfunken hinter der Rockikonografie. Und Michael Jackson ist einfach durch zu viele Reflexionsmangeln gedreht worden.

Das eigene Leben, wenn sein Bruder nach einem Stromschlag und dem Koma die Beziehung zur Bühnendeko, die unser Bewusstsein verstellt, verloren hat, das sind die starken, fast schon zu erleuchteten Momente dieses Bandes. Sullivan findet viel, weil er sein Gegenüber leben lässt. Als er sich zu diesem gigantischen christlichen Festival aufmacht, ist da natürlich der Hintergedanke an Menschen, bei denen „mehr als nur ein Schräubchen locker ist“. Aber auch wenn sein Blick auf den Christenrock nachvollziehbar gnadenlos ist, steigt er im richtigen Moment auf den Hügel, um zu erleben, wie eine Kettenreaktion von Kerzen ein Tal erhellt.

Ganz am Schluss wird er ausgesprochen, der animistische Kern seines Journalistenseins: „Ich aber glaube, dass ich mit Gott zusammensitzen kann, dass Gott eine der Masken dieses Dings ist, Oder dass dieses Ding Gott ist.“

John Jeremiah Sullivan: „Pulp Head. Vom Ende Amerikas“ (Edition Suhrkamp, 416 Seiten, 20 Euro)

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