Gott schenkte der Menschheit Sex und Casinos

Die Nordsee rauscht: Klare Weltsichten aus Hamburg von der Band Kettcar. Die Befindlichkeitsnummern haben sich zu blitzgescheiten Analysen entwickelt.
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Die Nordsee rauscht: Klare Weltsichten aus Hamburg von der Band Kettcar. Die Befindlichkeitsnummern haben sich zu blitzgescheiten Analysen entwickelt.

Ausgerechnet nach Sylt haben Kettcar ihre Platte benannt. Nach einer Nordseeinsel, auf der mehr Schein als Sein herrscht. Und dann kommen sie mit Texten an, die genau solche Scheinwelten einfach explodieren lassen. Es herrscht nüchterne Erkenntnis auf dem dritten Album der Hamburger – über Menschen, die sich selbst feiern, über ausgeleierte Freundschaften und über das Leben an sich.

Musikalisch hat sich am Indie-Pop nicht viel verändert. Die Gitarren rauschen wie ein Blätterwald, insgesamt ist der Klangteppich berückend unspektakulär. Ein bisschen abwechslungsreicher sind Kettcar geworden, der Gesang nuschelt öfter vor sich hin. Aber eigentlich stehen die Texte im Vordergrund, und sie tun es zu Recht: Die Befindlichkeitsnummer hat sich zu blitzgescheiten Analysen entwickelt.

Das beginnt schon mit dem Opener „Graceland“. Eine Party, man ist ach so stylish, man wird nicht erwachsen. Sich darüber einfach nur zu mokieren, wäre ein Leichtes. Aber die Band erhebt sich nicht über diese Situation: „Das ist Graceland, ich bin einer von ihnen“, heißt es. Und: „Dieser Wahn ist lächerlich, dumm und zerrissen / Das macht weiter nichts; nur man muss es halt wissen.“

Einen Hauch Melancholie bringt „Am Tisch“ mit. Unterstützt von Niels Frevert haben Kettcar den Abgesang auf eine alte Freundschaft aufgenommen: Unterschiedliche Lebensentwürfe, Vorwürfe, ein trauriges Keyboard. Das Kontrastprogramm bietet „Agnostik für Anfänger“ mit seiner reichhaltigen Instrumentierung, einem jazzigen Piano-Solo und der Feststellung: „Oh Gott, das ist sowas von langweilig“ – bis der Angesprochene der Menschheit Casinos und Sex schenkt. Erkenntnis kann durchaus komisch sein.

Und tröstlich, denn der Rausschmeißer der Gitarrenpopper heißt nach 44 Minuten „Wir werden nie enttäuscht werden“ – bei einem derart klaren Blick auf die Welt ist das tatsächlich schwer möglich.

Julia Bähr

Kettcar: „Sylt“ (Grand Hotel/Indigo). Die Band spielt am Donnerstag ab 20.30 in der Tonhalle

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