Gleichheit und Terror – Götz Alys neue Holocaust-Studie
„Warum die Deutschen, warum die Juden?“ – In seinem neuen Buch geht der Historiker Götz Aly der Frage aller Fragen der deutschen Geschichte nach: Wie konnte es zum Holocaust kommen? Seine Antwort klingt beunruhigend und trifft wohl auch einen empfindlichen Punkt im Selbstverständnis der Bundesrepublik: Das Streben nach sozialer Gleichheit, das sich seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland ausgebildet hat, richtete sich letztendlich gegen die Juden. Mit ihrem Wunsch nach Aufstieg und Bildung seien Juden zwar die großen Gewinner der Modernisierung gewesen. Doch damit zogen sie auch Missgunst und Neid der Mehrheit auf sich, was sich mit Hitlers Machtergreifung als fatal erwies.
In seinem früheren Werk „Hitlers Volksstaat“ hatte Aly bereits über den Nationalsozialismus als Wohlfahrtsstaat geschrieben. Ein engmaschiges System sozialer Absicherungen habe zur Identifikation der Bevölkerung mit dem Hitler-Regime beigetragen, eine egalitäre Mentalität die brutale Enteignung der Juden wesentlich befördert. Nun geht Aly einen Schritt zurück in der Geschichte – und einen beunruhigenden Schritt der Erkenntnis weiter. Bereits seit 1800 seien in der Geistesgeschichte der Deutschen die Voraussetzungen für den Holocaust gelegt worden. Nach Jahrhunderten der Unterdrückung hatten die deutschen Juden im 19. Jahrhundert den sozialen Aufstieg dezidierter angepackt als die christliche Bevölkerung. Besser und schneller verstanden sie die Chancen, die ihnen die Moderne bot.
Der Hebel dazu war die „Selbstemanzipation kraft Bildung“, wie Aly es nennt. So gab es zum Ende des 19. Jahrhunderts im Verhältnis achtmal mehr jüdische Kinder mit mittleren und höheren Schulabschlüssen als christliche. Auch an den Universitäten war die Zahl jüdischer Studenten überproportional hoch. Dadurch waren Juden auch stärker in hoch qualifizierten und gut bezahlten Berufen vertreten. Die Reaktion folgte prompt. Der Soziologe Werner Sombart sah etwa 1912 Juden „viel gescheiter und betriebsamer als wir“. Er schlug vor, keine Juden mehr als Hochschullehrer zu ernennen, weil sie sonst alle Universitätsstellen besetzen würden.
Aly stützt sich in seiner Untersuchung nicht nur auf die Quellen, die in Folge der napoleonischen Besetzung in Deutschland eine Welle von völkischem Nationalismus und Antisemitismus auslösten, etwa bei den romantischen Dichtern Achim von Arnim und Clemens Brentano. Auch in der schwarz-rot-goldenen Demokratiebewegung habe ein Tonfall von Antisemitismus und kollektivistischem Gedankengut vorgeherrscht, der später zum „Terror der Gleichheit“ wurde.
So sah etwa der Gründer der Turnbewegung, Friedrich Ludwig Jahn, ein Vorkämpfer der deutschen Einheit, die Juden als „fremde Plage“, die den „teutschen Volksstamm“ bedrohen. Selbst SPD und Gewerkschaften hätten ungewollt mit ihrem sozialstaatlichen Gedankengut den Antisemitismus unter den Arbeitern verbreitet. So habe der sozialdemokratische Theoretiker Franz Mehring eine Allianz von „Antisemitismus und Sozialismus“ gegen den bürgerlichen Liberalismus schmieden wollen. Auf diesen Grundlagen sind laut Aly die politischen Voraussetzungen für die Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts und den Holocaust entstanden.
Aly forscht auch in der eigenen Familiengeschichte, wird bei seinem Großvater Friedrich Schneider fündig, der 1926 der NSDAP beitrat und sich von den sozialen Versprechen Hitlers einen Ausweg aus der Arbeitslosigkeit versprach. Sein Opa sei kein aktiver Nazi gewesen, habe aber einen der vielen Teile beigetragen, die zur Gewalt- und Vernichtungsherrschaft zwischen 1933 und 1945 führten. Dieser Wunsch nach kollektiver Geborgenheit ziehe sich wie ein roter Faden durch die vergangenen 200 Jahre in Deutschland. „Eine Geschichte ohne Ende“ lautet Alys Fazit. Klar für ihn ist: Die Zeit von '33 bis '45 war kein Ausrutscher.
Götz Aly: Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011, 352 S., Euro 22,95 Euro