Getrunken, gehasst, verletzt, zerstört

Stefan Hunstein spielte in Dieter Dorns Inszenierung „Gott des Gemetzels” am Residenztheater. Für die AZ hat er sich jetzt Roman Polanskis Verfilmung angesehen, die am Donnerstag im Kino anläuft
Stefan Hunstein |
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Das Stück von Yasmina Reza trifft den Zeitgeist. Man erkennt seine Lebenswelt darin wieder: das Milieu, die Frustrationen, Beziehungsprobleme - das alles betrifft unsere gesamte westliche Welt. Daher wird es nicht nur bei uns landauf landab gespielt. Darüber hinaus ist es extrem pointiert geschrieben, so dass es zu einem großen Spaß für den Zuschauer werden kann. Die Frage ist nur, wie kommt man hinter die Oberfläche des Textes, wie stößt man zum Kern vor?

DIE VERNUNFT KOMMT AN EIN ENDE „Der Gott des Gemetzels” ist ein Stück über vernunftbegabte Menschen, die gefestigt in der Mitte unserer westlichen Zivilisation leben, die aber beim kleinsten Anlaß, zu Wilden werden, viel schlimmer als die Kinder, die nur gerauft haben und um die es eigentlich geht. Das heißt: Hinter unserer kulturellen Oberfläche lauert der Krieg, ein Schlachtfeld, das in unseren Wohnzimmern beginnt.

IN DIE KÖRPER HINEIN Eine gute Inszenierung muss über die Sprache hinaus in die Körper der Darsteller hinein. Sie muss in die Unvernunft hinein, ins Irrationale, ins Delirium. Das Stück heißt nicht umsonst „Der Gott des Gemetzels” und die Autorin gibt im Text Hinweise. Es wird getrunken, gehasst, verletzt, zerstört. Und wenn Sunnyi Melles auf der Bühne theatralisch gekotzt hat, ist das zwar tragikomisch, aber vor allem gilt: bei diesem Kotzen will was raus aus dem Köper, eine Verletzung, die tief in ihr sitzt.
Ich bin seit Jugendtagen Polanski-Fan. Er ist ein Schauspieler-Regisseur. Wenn er jetzt Jodie Foster, Kate Winslet, John Reilly und Christoph Waltz um sich versammelt, kann eigentlich nichts schief gehen, weil das Stück komplett um die vier Figuren herum gebaut ist. Aber ich bin in die Polanski-Verfilmung schwer reingekommen, weil der Film mehr das Milieu der Figuren beschreibt und nicht den Zustand, in den sie hineingeraten.
Ich habe aber eine eigene Perspektive: Ich kenne das Stück von Innen. Denn ich habe mich vier Jahre mit großartigen Kollegen damit beschäftigt. Wir haben darin Erfahrungen gesammelt und umgesetzt, die ein Regisseur nicht inszenieren kann. Wir haben uns in 100 Vorstellungen schonungslos in eine Arena geworfen und miteinander gekämpft. Daraus ist ein Stück gelebte Realität geworden. Ein Film dagegen wird zerhackt, in kurzer Zeit abgedreht. Das ist schauspielerisch fast immer oberflächlicher.

SELTSAM, DIE EIGENE ROLLE AUF GROSSLEINWAND Christoph Waltz ist ein wunderbarer Schauspieler und es ist seltsam, die eigene Rolle von jemand anderem gespielt zu sehen. Er interpretiert die Figur zynischer, distanzierter, abgeklärter. Das macht ihn unabhängiger. Ich selbst bleibe aber immer auf seiner Seite, weil er den einzigen richtigen Satz sagt: „Das sollen die Kinder untereinander lösen!” Vermisst habe ich allerdings seine erotische Annäherung an die andere Frau, gespielt von Jodie Foster, die so gegensätzlich zu seiner eigenen Frau (Kate Winslet) ist und vielleicht die Richtige wäre.

WAS BRINGT EIN FILM GEGENÜBER DEM THEATER? Mich hat irritiert, dass Polanski so gekürzt hat, dass der Film nur 85 Minuten dauert. Bestimmte Entwicklungen lassen sich so nicht erzählen, sie brauchen Raum und Zeit. Die Inszenierung der Autorin Reza selbst – in Paris mit Isabelle Huppert – hat drei Stunden gedauert und war auf die Sprachlosigkeit der Figuren ausgerichtet. Dieter Dorn wiederum hat in München einen zweistündigen „modernen Tschechow” daraus gemacht.
Warum macht man aber einen Film daraus? Lars von Trier hat mit „Dogville” versucht, einen Film nur mit aufgemalten Grundrisslinien auf leerer Bühne zu drehen. Das glückte, weil er das Medium Film untersucht hat. Bei „Gott des Gemetzels” sehe ich aber keinen Zugewinn, den Kino gegenüber dem Theater bringt. Ein Film muss näher ran und verliert so die Totale und die Möglichkeit, dass immer alle vier gleichzeitig anwesend sind. Im Theater hat der Zuschauer alle im Blick, kann die Entwicklungen gleichzeitig beobachten. Das ist der Reiz, den nur das Theater bietet. Es sind ja – was in der Literatur selten ist – vier gleichberechtigte Hauptrollen, wo jeder im Besitz der „Wahrheit” zu sein scheint. Und der Kampf um die Selbstbehauptung findet hier real statt, der Zuschauer ist live dabei!

WIR VIER HÄTTEN WEITERSPIELEN SOLLEN Und wenn ich so nachdenke, finde ich es schade, dass Sibylle Canonica, Michael von Au, Sunnyi Melles und ich das Stück nicht einfach weiterspielen bis wir uralt sind. Übrigens: Leander Haußmann hat Dorns Inszenierung gesehen und gesagt: „Das müsste man verfilmen, und ich würde sofort euch vier dafür nehmen.” Aber da waren die Filmrechte schon vergeben.

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