Geist, Schönheit und Spiritualität

Ein Sonderling wird Klassiker: Warum sich die bildmächtige Kandinsky-Retrospektive im Lenbachhaus vor Besuchern kaum retten kann
Abendzeitung |
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
0  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News

Ein Sonderling wird Klassiker: Warum sich die bildmächtige Kandinsky-Retrospektive im Lenbachhaus vor Besuchern kaum retten kann

Es scheint ein zur kritischen Masse der Kernphysik vergleichbares Phänomen in der Kultur zu geben: Wenn ein Ereignis einmal 200000 Besucher angelockt hat, kommen die nächsten 200000 als Kettenreaktion von selbst. So stellt es sich dar, wenn man die seit Ende Oktober bei jeder Witterung gleich lange Schlange kälteresistenter Kandinsky-Fans vor dem Lenbachhaus ansieht.

Die Multiplikatoren der Abstraktions-Begeisterten wurden immer mehr – und mit ihnen die Empfänger ihrer Botschaft „Da muss man hin!“ Monatlich wurde mit der Retrospektive des Avantgardisten die Rekordmarke gebrochen. Wird jetzt, kurz vor Schluss der Schau am Sonntag, die 400000er-Marke erreicht? Warum begeistern sich die Leute für einen Künstler, der von der volkstümlich-figurativen Malerei kam und durch einen Kosmos starker Farbakkorde und Gefühlswerte in eine völlig losgelöste Abstraktion reiste? Einen intellektuellen Sonderling, der die Welt diesseits der Leinwand nur schemenhaft wahrnahm, die Kunst revolutionierte und dem zu Lebzeiten der große Ruhm versagt blieb.

Ohrensausen für die Augen

Weil Kandinskys Werk auf einmalige Weise Geist, Schönheit, Emotion und Spiritualität in sich vereinigt. Weil seine Gemälde Eindrücke der sichtbaren Welt durch die Abstraktion kompensieren und zugleich innere Bilder erkennbar machen. Und wegen der faszinierenden Synästhesie: Weil bei Kandinsky eine nie gehörte Musik in Linie, Form und Farbe eindrucksvoll bildmächtig wird. Und man als Betrachter seiner dynamisch-dissonanten Farbklänge schon mal Ohrensausen bekommt.

Und vielleicht gibt es ja so etwas wie einen neuen Hype um die Abstraktion. Nachdem in den letzten Jahren die figurative Malerei hochgehalten wurde, hat man sich vielleicht, wer hätte das gedacht, an all der gewollten Verrätselung oder provozierenden Eindeutigkeit einfach abgesehen. Denn die Gegenstandslosigkeit ist eine Form von Eskapismus aus einer immer unübersichtlicheren Realität: Und je bedrohlicher die Krise da draußen wird, desto mehr lockt diese kleine Flucht in die erholsam abstrakte Kunst.

Roberta de Righi

  • Themen:
Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
0 Kommentare
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
Noch keine Kommentare vorhanden.
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.