Gehorchen ist die Ursünde
Es ist so etwas wie das katholische Herz Bayerns. Und da der Freistaat insgesamt recht gut katholisch ist, will das was heißen. Hunderttausende Gläubige pilgern jährlich nach Altötting, um vor der Schwarzen Madonna zu knien – eine große Ikone der Marienverehrung.
Der gebürtige Altöttinger Andreas Altmann hat die Nase voll. Und zwar gründlich. „In Bayern stinkt es ganz besonders nach Katholizismus und am heftigsten stinkt es in Altötting”, schimpft Altmann, der am liebsten „Stinkbomben werfen” würde auf den Ort, in dem er auf die Welt kam. Und das hat er nun in Worten getan: „Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend”, heißt seine (wort-)gewaltige Abrechnung auf 250 Seiten.
In diesem Buch blickt er zurück auf eine unglückliche Jugend, die ihn – so sagt er heute – tief traumatisiert hat. Von frühester Kindheit an wurde er von seinem Vater verprügelt. Auch sein Religionslehrer schlug zu, seine Mitschülerin wurde vom Pfarrer missbraucht. „Ich habe Beweise und eidesstattliche Erklärungen. In meinem Buch ist nichts erfunden, es geht um Tatsachen”, betont Altmann. „Die Pfarrer, die uns missbraucht, beziehungsweise misshandelt haben, sind alle mit Glanz und Gloria beerdigt worden.”
Altötting sei schon immer geprägt gewesen von „Bigotterie und Weihrauch-Gesäusel”. Und so beschreibt er Religionsstunden, in denen Sex verteufelt wird – und berichtet von schwulen Sexpartys bei den Kapuzinern. „Die schier unauslotbare Diskrepanz zwischen Moralpredigt und sexuellen Schweinereien ist zum Schreien komisch.”
Altmanns Geschichte beginnt in den späten 1940er Jahren in einer von Krieg und Nazi-Ideologie zerfressenen Gesellschaft „im Gnadenort Altötting”, in der die Eltern mit ihren Kriegserlebnissen alleingelassen werden und die Kinder nie so etwas wie ein warmes Elternhaus und Geborgenheit erfahren dürfen.
In Schilderungen, die eine solche sprachliche Wucht entfalten, dass sie schon beim Lesen fast physischen Schmerz verursachen, lässt Altmann seine Kindheit und Jugend wieder aufleben – mit der Überzeugung, dass er mit seinen Erfahrungen nicht allein ist. Viele hätten ihm erzählt, dass sie in ihrer Jugend misshandelt und sogar missbraucht worden seien – und ihm gleichzeitig verboten, das zu schreiben. „Man will verdrängen, man will das nicht wissen.” Sein Vater, das wisse er heute, sei nicht als böser Mensch geboren. Er sei schwach gewesen und an seinem Leben zerbrochen.
„Er ist für mich ein krankes Arschloch – aber daran trägt er, das mag sonderbar klingen, nicht wirklich Schuld. Er hatte nicht die innere Kraft, den nötigen Charakter, um seinen Wahnwitz zu bändigen.” Mit 18 Jahren floh Altmann aus seinem Elternhaus. Nach einem abgebrochenen Psychologie- und Jurastudium sowie Engagements am Bayerischen Staatsschauspiel und am Schauspielhaus in Wien arbeitet er heute als Reise-Autor und lebt in Paris. Für seine Reportage „Äthiopien ganz nah: Leben am Rande der Welt” wurde er 1991 mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet.
Das Schreiben sei für ihn der Weg, sein Leben zu bewältigen, sagt Altmann heute. „Wenn ich das Schreiben nicht entdeckt hätte, wäre ich abgesoffen, läge heute als Loser vor dem Sozialamt.” Von seinem Buch erhofft er sich vor allem eins: „Ich will die Leute anspornen, dass sie nicht gehorchen. Gehorchen ist die Ursünde.”
Andreas Altmann: „Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend” (Piper, 256 Seiten, 15.99 Euro)