Gefährdeter Erfolg mit spielerischem Selbsthass
Vor 150 Jahren, 1861, einigte sich Italien und scheint bis heute uneins, oder? Mafia, Korruption und Berlusconi prägen unser Bild wie Pizzza, Adria und Spaghetti. Aber was ist die Wahrheit?
Italien scheint uns Deutschen oft als Land romantischer Sehnsucht und des Verfalls – politisch und moralisch.
AZ: Herr Woller, feiert Italien zum 150. Geburtstag nicht ein Desaster?
HANS WOLLER: Nein. Es stimmt zwar: Seit Italien besteht, befindet es sich in einer Art Dauerkrise. Aber wir nehmen immer nur die Absonderlichkeiten wahr: Korruption, Mafia, Müllberge und seit fünfzehn Jahren Berlusconi mit seiner maskulinen Dicktuerei und seinen haarsträubenden Skandalen.
Was ist daran falsch?
Wir übersehen, dass Italien seit 1861 einen unglaublichen Aufholprozess durchlaufen hat. Noch um 1900 war es ein rückständiges, fast archaisches Land, nicht weit entfernt von dem, was Johann Wolfgang von Goethe in seiner „Italienischen Reise“ beschrieben hat. Aber ab 1945 verwandelte sich Italien in eine außerordentlich leistungsfähige, moderne Industriegesellschaft, die Mitte der 80er Jahre sogar Großbritannien als Wirtschaftsmacht überflügelte. Heute ist Italien die drittgrößte Volkswirtschaft der Eurozone.
Vieles ist aber doch prekär.
In der globalisierten Welt ist die Konkurrenz größer und aggressiv. Jetzt zeigt sich: Italien hat die dritte industrielle Revolution ignoriert und leidet unter einem Burn-out-Syndrom. Der italienische Anteil am Welthandel hat sich in 15 Jahren halbiert.
Aber Berlusconi ist ja der große Blender, der als erfolgreicher Unternehmer Wirtschaftskompetenz verspricht.
Berlusconi weiß auf die italienische Krise keine Antwort. Er hat keine Vision und kein Programm für eine Modernisierung. Eine Rosskur ist fällig, die Berlusconi nicht wagt, weil er so die Unterstützung der Wähler verlieren würde. Berlusconi verschleiert also die Krise und denkt sich: weiter so! So aber ist der Sinkflug nicht aufzuhalten.
Berlusconi wirkt von außen wie ein post-demokratischer Volkstribun, der die Macht seinen Medien verdankt.
Das sind nur Wortgespenster. Berlusconi mag ein demokratischer Nihilist sein. An die Spielregeln muss er sich dennoch halten: Es gibt freie Wahlen, ein unabhängiges Verfassungsgericht und einen – übrigens aus der Reihen der alten kommunistischen Partei stammenden – Staatspräsidenten, der Berlusconi mehrmals in die Schranken gewiesen hat. Und auch ist nicht jedes TV-Gerät „gleichgeschaltet“. Roberto Savianos kritische Sendungen „Vai via con me“ haben elf Millionen Zuschauer gesehen. Auch an Berlusconi-kritischen Zeitungen mangelt’s nicht.
Welches Urteil wird die Geschichte letztlich über Berlusconi fällen?
Ein fatales! Weil er auf allen Politikfeldern versagt hat. Aber es gibt keine überzeugende Alternative. Schon zu Zeiten der konservativ-klerikalen Großpartei, der Democrazia Cristiana, hat es den Spruch gegeben: Nase zuhalten und trotzdem DC wählen!
Warum nicht einmal links?
Das haben die Italiener ja getan. Die Mitte-Links-Formation unter Romano Prodi hatte zweimal die Chance, zu zeigen, dass sie es besser kann. Zweimal hat sie nicht gerade brilliert. Heute ist die Situation noch schlechter: Mitte-Links ist ein heterogener, wilder Haufen ohne Programm und Gesicht.
Es gab hier lange eine starke kommunistische Partei.
Ja, aber sie blieb für das Bürgertum unwählbar, weil sie zu lange an klassenkämpferischen Traditionen festgehalten hat und von Moskau abhängig blieb und Mühe hatte, stalinistische Züge abzulegen. Es ist die Tragik der italienischen Linken, dass sie keine echte sozialdemokratische Partei hervorgebracht hat.
Italien war im 20. Jahrhunderts auf ungute Weise politische Avantgarde. Es war das erste faschistische Land.
Italien hat auf den Industrialisierungsdruck, auf die Herausforderung des Kommunismus und die Folgen des Ersten Weltkriegs eine autoritäre Antwort gefunden: den Faschismus als neuartiges Herrschaftssystem mit Massenbasis und einer Verbrechensbilanz, die schauerlich ist. „Italia docet – Italien macht es vor!“ war eine Redewendung der nationalen Rechten in Europa. Einer der Musterschüler Mussolinis war übrigens Hitler.
Gerade zum 150. Geburtstag scheint Italien vom Zerfall bedroht.
Um die Einheit muss man nicht fürchten. Dazu sind die Traditionen zu stark, ist die Alltagskultur zu ausgeprägt. Selbst innerhalb der Lega Nord sind die Separatisten eine Minderheit. Aber der Zug zu einer stärkeren Föderalisierung Italiens ist nicht aufzuhalten. Und das ist ja an sich nicht schlecht, vorausgesetzt, der strukturschwache Süden wird nicht sich selbst überlassen. Gegen den Zerfall schützen übrigens auch 150 Jahre gemeinsame Geschichte und nicht zu vergessen: die ruhmreiche Römerzeit, die im kollektiven Gedächtnis noch immer präsent ist.
Dennoch begegnet man oft pessimistischem Selbsthass.
Italien ist zwar ein Land, das sich ununterbrochen selbst herabsetzt, allerdings auf eine fast spielerische Weise, die schwer zu durchschauen ist. Aber wehe, wenn Unbefugte von außen Kritikwürdiges entdecken! Dann begegnet man stolz-getränkten Abwehrreflexen und starker patriotischer Selbstbehauptung.
Stimmt es, dass Italiener den Staat verachten und sich nur auf die Familie verlassen?
Wenn der Staat für vieles nicht mehr sorgt, Arbeitslosigkeit und vor allem Jugendarbeitslosigkeit steigen, Akademiker wegen Chancenlosigkeit das Land verlassen, dann ist die Familie noch immer ein Krisenpuffer und existenzieller Rückhalt. Aber die sorgende Großfamilie wird es so nicht mehr lange geben. Fast nirgendwo sind die Geburtenraten nämlich so gering wie in Italien.
Adrian Prechtel