Geburt, Liebe, Tod

Vom Schtetl nach New York: In den Kammerspielen inszenierte der designierte Intendant Johan Simons eine Dramatisierung von Joseph Roths Roman „Hiob“. Ein Triumph
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Vom Schtetl nach New York: In den Kammerspielen inszenierte der designierte Intendant Johan Simons eine Dramatisierung von Joseph Roths Roman „Hiob“. Ein Triumph

So einfach kann man das Leben zusammenfassen: „Birth“, „Love“, „Death“ steht in großen Lettern auf dem bunten Schicksalskarussell, das Bert Neumann auf die Bühne der Kammerspiele baute. Regisseur Johan Simons, der den Kammerspielen seit 2003 schon einige außergewöhnliche Aufführungen beschert hat, inszenierte den 1930 erschienenen Roman „Hiob“ von Joseph Roth in einer Fassung von Koen Tachelet. Eine mit Spannung erwartete Premiere, denn seit Oktober weiß man, dass der 61-jährige Niederländer, derzeit Leiter des Nationaltheaters Gent, 2010 die Intendanz der Kammerspiele übernehmen wird. Und „Hiob“ bekräftigt alle Hoffnungen auf spannendes, anspruchsvolles Theater zum Mitdenken. Nach zwei pausenlosen Stunden gab’s bei der Premiere Beifallsstürme für Simons und sein glänzendes Ensemble, vor allem für den phänomenalen André Jung.

André Jung spielt Mendel Singer, den kleinen, frommen ostjüdischen Lehrer, den sein geliebter Gott ohne Grund straft wie einst den alttestamentarischen Hiob. Mendel verliert seinen ältesten Sohn ans russische Militär, dann seine galizische Heimat. Bei der Auswanderung nach Amerika muss er auch seinen jüngsten, schwerbehinderten Sohn Menuchim zurücklassen. In Amerika verliert er seine anderen beiden Kinder, seine Frau und darob schließlich die Liebe zu Gott. Doch wie in der Bibel geschieht ein Oster-Wunder: Als Messias erscheint Menuchim, geheilt von der Epilepsie und nun ein berühmter Musiker, um den Vater zu sich zu nehmen.

Die Welt ist nicht mehr in Ordnung

Mendels kleines Haus im Schtetl Zuchnow wird begrenzt von einer hässlichen Sperrholzwand mitten durch Bert Neumanns Karussell mit verschiedenst spießig gemusterten Vorhängen. Gewendet enthüllt die Rückseite das Hochglanz-Traumbild Amerikas mit Stars und Stripes in Türkis und Flieder. Simons überlässt alle atmosphärischen Details der ausgezeichneten Geräusch- und Klangcollage von Paul Koek. Schon im Schtetl ist die Welt nicht mehr in Ordnung: Mendel und seine alternde Frau Deborah haben sich entfremdet, Sohn Jonas will zu den Soldaten, der jüngere Shemarjah flieht ins Ausland, die Tochter schläft mit allen Kosaken im Dorf, und Menuchim windet sich epileptisch auf dem Boden.

Das spielt Sylvana Krappatsch hervorragend. Wie eine zerbrechliche Gliederpuppe lässt sie sich hin- und hertragen, zuckt und strampelt, gurgelt außer „Mama“ nur unverständliche Laute. Als Menuchim erstmals die Magie der Musik spürt, liegt Krappatschs Gesicht lauschend in Mendels Hand. Beim Wiederfinden am Schluss hält Menuchims Hand in ähnlicher Haltung des gebeugten Vaters Nacken.

Die Figuren ins Leben geholt

Tachelets Text aus erzählenden Monologen und Dialogen bewahrt meist einen episch-trockenen Grundton, das schafft zunächst eine gewisse Sprödigkeit. Doch die Schauspieler holen die Figuren ins Leben. Beklemmend eindringlich spielt Hildegard Schmahl, wie Deborah sich des körperlichen Verfalls, des Verlusts der Lust bewusst wird. Edmund Telgenkämpers gewiefter Shemarjah wandelt sich zum Erfolgs-Amerikaner Sam mit strahlend breitem Lachen, Steven Scharf gibt dem kreatürlich-simplen Jonas ebenso scharfe Kontur wie dem amerikanischen Freund Mac. Und Walter Hess verkörpert als Rabbi, Arzt oder Nachbar Fürsorge. Nur Wiebke Puls als Nymphomanin Mirjam wirkt seltsam manieriert und artifiziell: In mondänen Glamourfetzen (Kostüme: Dorothee Curio) spielt sie schon von Anfang an den späteren Wahnsinn einer Borderline-Persönlichkeit mit.

André Jung feiert seinen Schauspieler-Triumph, wenn es dem kleinen Mann Mendel am schlechtesten geht. Vom nüchternen Realisten, der die Schiffsreise erschreckt auf einem hohen Stapel von Plastikstühlen erlebt und vor Amerikas Reizüberflutung in Ohnmacht fällt, wird er zum wütenden Ankläger, der seinem nun gehassten Gott furiose Monologe entgegenschleudert – und doch am Ende versöhnt „die Welt begrüßen“ will.

Gabriella Lorenz

Kammerspiele, 22., 29. April, 8., 13. Mai, 19.30 Uhr, Tel.23396600

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