Gastbeitrag von Werner Huth: Verstehe deine Feinde wie dich selbst

Im Jahr 1795 schrieb Immanuel Kant in seiner Altersschrift "Zum ewigen Frieden", Friede sei kein natürlicher Zustand zwischen den Menschen. Deshalb müsse er gestiftet und abgesichert werden. 1931 fragte Albert Einstein Sigmund Freud in einem Brief: "Gibt es eine Möglichkeit, die psychische Entwicklung des Menschen so zu leiten, dass sie den Psychosen des Hasses und des Vernichtens gegenüber widerstandsfähiger werden?"
Freud antwortete ihm, es gäbe zwei Triebe, einen zum Lieben und einen zum Hassen. Beide seien für das Leben unerlässlich, denn aus ihrem "Zusammen- und Gegeneinanderwirken ... gehen die Erscheinungen des Lebens hervor". Er schloss mit der "vielleicht nicht utopischen Hoffnung, dass der Einfluss der kulturellen Einstellung und der berechtigten Angst vor den Wirkungen eines Zukunftskrieges dem Kriegführen in absehbarer Zeit ein Ende setzen wird".
Werner Huth: "Die Menschheit kann sich auf einen Schlag ausrotten"
Viele sträuben sich gegen die Behauptungen Kants, Einsteins und Freuds, dass der Friede kein natürlicher Zustand des Menschen sein soll, dass es eine in uns angelegte Aggressionsbereitschaft gibt, dass wir nur überleben werden, wenn wir unsere Kultur weiter entwickeln und dass Frieden ein labiles Gebilde ist. Diese Auffassungen sind jedoch zu schwerwiegend, als dass wir uns ihnen entziehen dürfen. Allerdings fällt es uns nicht leicht, wie Freud an anderer Stelle bemerkte, uns dabei nicht allzu sehr von unseren Vorlieben und Spekulationen leiten zu lassen, wie es beim Umgang mit solchen Themen der Fall zu sein pflegt.
Auch die Spekulation Freuds erwies sich als Irrtum, nämlich dass die Angst vor einem zukünftigen Krieg das Kriegführen in absehbarer Zeit verhindern könne. Weder er noch Einstein hätten, als sie ihre Briefe wechselten, für denkbar gehalten, dass wenige Jahre danach ein neuer Weltkrieg ausbrach, in dem es zu einem Auschwitz und einem Hiroshima kam. Auschwitz steht dabei als Chiffre dafür, dass Menschen, die aus einem Volk stammten, in dem ein Kant, ein Beethoven und ein Goethe gelebt haben, sechs Millionen Juden ermordeten. Das wird auch nicht dadurch relativiert, dass im 20. Jahrhundert, wie Jared Diamond nachwies, über 100 Millionen Menschen allein durch Völkermord umkamen. Beispiellos war auch der Atombombenabwurf über Hiroshima. Mit Recht nannte man den 6. August 1945 den schwärzesten Tag in der Geschichte der Menschheit, denn seitdem weiß man, dass diese sich selber auf einen Schlag ausrotten kann.
Obwohl all das letztlich unfassbar ist, gab es dafür doch einige Voraussetzungen. Es gehörte dazu ein bestimmtes Menschenbild bei den Tätern. Auch konnte man rein technisch erst jetzt solche Menschenmassen vernichten. Spielte dabei aber auch der angeblich in uns allen angelegte Aggressionstrieb eine Rolle? Diese Fragen sind zu komplex, um hier umfassend diskutiert zu werden. Teilantworten kann man jedoch geben.
Huth: "Rousseaus Vorstellung vom wesenhaft guten Menschen ist widerlegt"
Vor allem ist Freuds Behauptung, es gäbe einen angeborenen menschlichen Aggressionstrieb umstritten. Pate dieses Einspruchs ist Jean-Jacques Rousseau (1712-1778). Er meinte, der Mensch sei von Natur aus gut und werde nur durch schlechte Umstände böse. Dasselbe behauptete man später auch von den Primaten. In Wirklichkeit aber tragen zum Beispiel Schimpansen mitunter tödliche Revierkämpfe aus. Manchmal töten sie sogar ihren Nachwuchs unter Beteiligung der eigenen Mutter, wenn diese erneut paarungsbereit ist.
Rousseaus Vorstellung vom wesenhaft guten Menschen ist gleichfalls widerlegt, zum Beispiel durch Abbildungen von Mordtaten auf Jahrtausende alten Felszeichnungen. Auch gibt es heute noch Tötungsdelikte bei Menschen, die mit unserer Kultur kaum Kontakt hatten. Am Sichersten aber lässt sich die Frage, ob unsere Aggressivität genetisch mitbedingt ist, durch die Beobachtung getrennt aufgewachsener eineiiger Zwillinge beantworten, weil diese ja ein identisches Erbgut haben. Seit den Untersuchungen von Thomas J. Bouchard steht fest, dass neben anderen Charakterzügen auch die Aggressivität erblich mitbestimmt ist.
Werner Huth über die Voraussetzungen für den Aufbruch in die Erwachsenenwelt
Falsch wäre es allerdings, "genetisch" mit "zwangsläufig" gleichzusetzen und die Aggression nur negativ zu sehen, denn sie ist eine Voraussetzung dafür, dass wir uns im Leben durchsetzen oder umgekehrt, Grenzen setzen können. Auch interagiert sie mit anderen in uns angelegten Tendenzen, zum Beispiel mit Freuds "Trieb zum Lieben". Dessen Wurzeln reichen ebenfalls bis in die frühe Kindheit zurück. So hat man bereits bei Zweijährigen Züge von Empathie, Kooperation oder der Bereitschaft nachgewiesen, Anderen zu helfen. Die genannten Beobachtungen erhärten Freuds Annahme, dass aus dem Zusammenspiel zweier entgegengesetzter Tendenzen wesentliche Erscheinungen des Lebens hervorgehen.
Diese Interaktion erfolgt allerdings ebenso wenig wie die Beziehungen zwischen dem Einzelnen und den Anderen immer auf die gleiche Weise. Wer von uns hat nicht in der Pubertät durch Provokationen den Frieden seiner Umgebung gestört, letztlich um so die kindlichen Seiten seiner Bindung an die Herkunftsfamilie zu lösen und sich als selbstständiges Ich zu fühlen? Das aber sind Voraussetzungen für den Aufbruch in die Erwachsenenwelt.
Unsere Entgleisungsbereitschaft besteht lebenslang. Aktualisiert wird sie vor allem in Situationen, die bedrohlich sind oder uns so erscheinen. Als Nebeneffekt engt sich dabei automatisch unser Horizont ein, wodurch wir in Gefahr sind, uns zu radikalisieren und verführbar zu werden. Heutzutage nutzen das besonders die Demagogen aus. Auch dieses Verhalten hat Wurzeln, die zu unseren Vorfahren zurückreichen: Wenn ein Raubtier in die Höhle eindrang, in der sie lebten, gab es nur eine Überlebenschance: Ein dominantes Clanmitglied ordnete an, wo's langgeht. Demagogen sind Zerrbilder solcher Alpha-Männchen und zeigen auch die gleichen Züge wie sie: laute, oft stakkatoartige Äußerungen, lebhafte Gestik und den unbedingten Willen, zu dominieren und so die Anderen zu (ver-)führen.
Werner Huth: "Narzissten kennen vor allem kein Mitgefühl"
In guten Zeiten finden wir solche Menschen oft angeberisch oder sogar abstoßend. Sobald aber ihre Stunde gekommen ist, läuft das gleiche Schema ab wie eh und je. Nur so wird zum Beispiel verständlich, dass 70 Millionen Amerikaner zu einer Zeit, als ein Riss durch ihre Gesellschaft ging, Donald Trump wieder zum Präsidenten wählen wollten, obwohl er nicht nur bei der Corona-Krise versagte, sondern uns jahrelang demonstrierte, dass Narzissten keine Gefühle außer Selbstverliebtheit und Sentimentalität kennen, vor allem kein Mitgefühl.
Kritisch ist gegenwärtig allerdings nicht nur die Situation der amerikanischen Demokratie, sondern fast aller westlichen Demokratien. Den vielleicht wichtigsten Grund dafür erkannte Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde (1930 - 2019): Die Demokratie lebt von einer Voraussetzung, die sie selber nicht garantieren kann, nämlich dem großen Wagnis der Freiheit. Deren Wurzeln sind die Idee der Aufklärung vom mündigen Bürger und die christliche Liebesidee. Nun führte aber gerade der Erfolg der Demokratie dazu, dass diese Ideale durch eine zunehmende Individualisierung und Profanierung ihrer Bürger immer mehr in den Hintergrund rückten, sodass inzwischen für Viele Freiheit, Aufklärung und Christentum allenfalls noch Dekor für ihre weltlichen Geschäfte sind.
Werner Huth: "Aufklärung setzt voraus, dass man seine Scheuklappen ablegt"
Im Gefolge dieser Entwicklung nahmen Populismus und soziale Ungleichheit zu, während zugleich ein neoliberales Wirtschaftssystem immer mehr zum höchsten Wert avancierte. Seitdem zählen vor allem Erfolg und Geld. Wer dieses Spiel mitmacht, für den ist Frieden letztlich nur ein frommer Wunsch von Versagern und Losern. Erkauft wird dieser Wertewandel allerdings wie beim Narzissten durch Abtötung seiner Gefühle gegenüber seinen Mitmenschen. Ist allerdings jemand diesem Spiel nicht gewachsen, dann bleibt ihm oft nur noch ein Rückzug nach innen in Form von Resignation und Depression beziehungsweise ein Ausbruch nach außen in Form von Wut oder Aggression übrig.
Was bedeutet das alles für unsere Ausgangsfrage, wie man den Frieden wahren kann? Mir fällt dazu nur eine Rückbesinnung auf die genannten Ursprünge unserer Demokratie ein, Aufklärung und Christentum allerdings auf eine vertiefte und teilweise erneuerte Weise. Aufklärung setzt voraus, dass man seine Scheuklappen ablegt und zu dem steht, was man eigentlich weiß, auch wenn es einem nicht passt. Dazu gehört zum Beispiel auch die Einsicht, dass uns die Corona-Krise Verzichte abverlangt und dass das in Zukunft wegen der Folgen der auf uns zukommenden ökologischen Krise nicht anders sein wird.
Am Umgang mit diesen beiden Krisen zeigte sich, dass die meisten von uns das akzeptieren, wenn sie begreifen, dass es notwendig ist. Da Freiheit Einsicht in die Notwendigkeit sowie die Bereitschaft voraussetzt, entsprechend dieser Einsicht zu handeln, sind sie die wirklich Freien in unserer Gesellschaft. Wer jedoch Freiheit so versteht, dass man tun kann, was einem passt, ist in Wirklichkeit nicht frei, sondern ein Hampelmann an den Drähten seiner Triebe.
Werner Huth: Politiker missbrauchen die Streitkultur
Hampelmänner ganz anderer Art, nämlich an den Drähten ihrer Phantasien über die Erwartungen ihrer Wähler sind leider auch manche Politiker. Mit ihren populistischen Bemühungen um Stimmenfang um jeden Preis verkaufen sie nicht nur viele Wähler als dumm, sondern missbrauchen mit Vorliebe auch das, was mit dem Begriff "Streitkultur" gemeint wird. Worum es dabei wirklich geht, wird zum Beispiel an der Spannung deutlich, die darin besteht, dass Jesus einerseits in der Bergpredigt sagte: "Selig sind die, die Frieden stiften" und andererseits über sich eine Aussage machte, die der Idee des Friedens scheinbar ins Gesicht schlägt. Sie lautet: "Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert."
Wie man diesen Satz zu verstehen hat, ging mir an der Gestalt des tibetischen Boddhisattva Mañjushri auf, einem Wesen, das sich nach buddhistischer Vorstellung für die Erlösung anderer Wesen von ihrem Leid einsetzt. Abgebildet wird Mañjushri immer mit einem Schwert in der rechten Hand, das aber kein Symbol für Töten ist, sondern für Unterscheidung der Geister, für Entscheidung und für Wahrheit. Das heißt im Klartext, dass diese Fähigkeiten nicht billig zu haben sind, sondern nur dann, wenn man sich um Selbsterkenntnis bemüht und sich dabei mit den eigenen negativen Seiten konfrontiert. Das wusste man auch in den monotheistischen Religionen.
Hoffnung auf die Kraft wirklicher Friedfertigkeit
So lehrte zum Beispiel der berühmte Rabbi Nachman: "Man soll den bösen Trieb in sich nicht ertöten, sondern mit seiner Glut dem Gott dienen." Bei jungen tibetischen Mönchen sah ich auch, dass "Streitkultur" erlernt werden kann. Sie übten unter Anleitung eines erfahrenen Mönchs eine Diskussionstechnik ein, bei der jeder, bevor er redete, die Argumente seines Kontrahenten in sich lebendig machen musste. Erst nachdem dieser bestätigte, dass sein Gesprächspartner ihn verstanden hatte, konnte er ihm seine eigenen Argumente entgegenhalten, mit denen dann auf die gleiche Weise umgegangen wurde. Dabei ging mir auf, dass man Empathie einüben kann. Ein Streit dagegen, der nicht von Empathie getragen wird, ist sinnlos und lieblos. Niemals wird man dadurch einen anderen überzeugen können.
Dass diese Behauptung kein Wunschdenken ist, kann man zum Beispiel beim Dalai Lama feststellen, einem Meister der spirituellen Praxis und der Empathie. Bemerkenswerterweise versteht der chinesische Staat ausgerechnet dieses einzigartige Vorbild für friedliches Miteinander, auch mit dem chinesischen Volk, als Staatsfeind Nummer eins. Dabei waren doch sie es, die Tibet unrechtmäßig in Besitz nahmen und seine Bewohner unterdrückten, ausbeuteten und massenhaft töteten. Aber offenbar verstehen selbst sie besser als manche unserer Skeptiker, welche Kraft von wirklicher Friedfertigkeit ausgehen kann, einer Kraft, der auf die Dauer vielleicht nicht einmal starre autoritäre Systeme gewachsen sein dürften.