Gastbeitrag von Theodor Waigel: Frieden wahren, ein Meisterwerk der Vernunft!

Wer, wie ich, am 22. April 1939 geboren wurde, den verfolgte Krieg und Frieden ein Leben lang. Fünf Tage vor Beginn des Zweiten Weltkriegs am 27. August 1939 wurde mein Vater mit 44 Jahren nochmals zum Militär eingezogen, obwohl er von 1915-1918 am Ersten Weltkrieg hatte teilnehmen müssen. Er wurde 1940 entlassen, doch 1943 wurde mein einziger Bruder mit 17 Jahren eingezogen und verstarb als Soldat mit 18 Jahren.

Oberrohr: 379 Menschen hungern sich zu Tode
Im abgeschiedenen Oberrohr, nahe der großen Behinderteneinrichtung Ursberg, waren die Kriegsereignisse in besonderer Weise zu spüren. Im Euthanasie-Programm wurden 379 Menschen abgeholt und an anderer Stelle durch Hunger- Ernährung zu Tode gebracht. Die SS versuchte Ursberg zu besetzen, was am Widerstand eines Wehrmachtsgenerals namens Blümm, der sich verwundet in Ursberg aufhielt, scheiterte.
Ursberg war zum Lazarettort erklärt worden und Hunderte von Kriegsversehrten säumten die Straßen. Die Bombennächte in Augsburg und Ulm waren nächtens mit bloßem Auge sichtbar. Ich erinnere mich an den Rückzug der deutschen Wehrmacht, die Einquartierung versprengter Soldaten, die Auflösung einer SS Einheit, den Einmarsch amerikanischer Streitkräfte, die am gleichen Tag weiterzogen und die Besetzung französischer Truppen, die einige Wochen im Dorf verblieben.
Fragile Weltordnung im Kalten Krieg
Doch die Hoffnung auf den "Immerwährenden Frieden" wurde schon bald durch den Kalten Krieg zwischen den Westmächten und der Sowjetunion zunichtegemacht. Die Berlin-Blockade 1948 und der Koreakrieg 1950 hätten zu einem dritten Weltkrieg führen können, der angesichts von Atomwaffen in beiden Lagern zur Vernichtung menschlichen Lebens weltweit geführt hätte. Viermächtekonferenzen, Entschließungen der UNO und weitere Ost-West Begegnungen brachten den Frieden nicht näher. Der Mauerbau 1961 und die Kubakrise 1962 zeigten, wie fragil die Weltordnung damals war. Das Gleichgewicht des Schreckens verhinderte den Ausbruch eines zerstörerischen Weltbrandes. Auch im Vietnam-Krieg standen sich die Großmächte gegenüber, die USA in der Sorge, wenn Vietnam falle, komme es im Dominoprinzip zum Verlust von Asien. In dieser Zeit, 1967, entstand der Harmel-Bericht, des damaligen belgischen Außenministers Pierre Harmel zur Lage der NATO. Darauf aufbauend entstand die Doppelstrategie der NATO.
Durch ausreichende, militärische Stärke sollte die Sicherheit der NATO-Mitgliedsstaaten gewährleistet werden. Unter dem Vorzeichen militärischen Gleichgewichts sollten dauerhafte Beziehungen zu den Staaten des Warschauer Paktes hergestellt werden, um grundlegende politische Fragen zu lösen. Militärische Sicherheit und eine Politik der Entspannung sollten keinen Widerspruch darstellen, sondern eine gegenseitige Ergänzung.
Das war ein kluges Friedenskonzept, das Ende der siebziger Jahre durch den NATO- Doppelbeschluss seine Ergänzung fand. Der Westen forderte damals die Sowjetunion auf, ihre Überzahl an Mittel- und Kurzstreckenraketen in Europa abzubauen. Falls dies nicht erfolge, müssten im westlichen Europa, auch im westlichen Teil Deutschlands, entsprechende Waffensysteme errichtet werden. Diese Strategie entsprang der Analyse von Bundeskanzler Helmut Schmidt, der sich damit in seiner eigenen Partei nicht durchsetzen konnte.
Menschenkette gegen Pershing 2
Es war dann Bundeskanzler Helmut Kohl, der mit der Koalition von CDU/CSU und FDP dieses Konzept verwirklichte. Mitten in meinem Wahlkreis, in Neu-Ulm, wurde die Pershing 2-Rakete installiert. 500.000 Menschen versammelten sich in einer Menschenkette von Stuttgart bis nach Neu-Ulm, um dagegen zu demonstrieren.
Doch die angefeindete Maßnahme der NATO und der Bundesregierung hatte Erfolg, es kam zu der größten Abrüstung, die sowjetischen Raketen verschwanden und auch die amerikanischen Mittelstreckenwaffen konnten abgebaut werden. Die Vorgänge zeigen, nicht Frieden um jeden Preis, nicht der Schlachtruf "lieber rot als tot", sondern eine Strategie der Vernunft, der Entschlossenheit und des Dialogs führten zum Erfolg.
Frieden, Freiheit und Demokratie
Konrad Adenauer begründete seine Außen- und Sicherheitspolitik mit der Erhaltung von Frieden, Freiheit und Demokratie. Der Aufbau der Bundeswehr in den fünfziger Jahren war umstritten und kostete zeitweilig bis zu ein Drittel des Bundeshaushalts. Willy Brandt gewann die Bundestagswahl 1972 mit seiner Friedens- und Entspannungspolitik, der die CDU/CSU eine defensive "Status quo"-Politik entgegensetzte. Die Friedenssehnsucht der Menschen ist Ausdruck ihres Strebens nach Freiheit, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und persönlichen Wohlergehens.
Diese Sehnsucht bedarf zu ihrer Verwirklichung nicht nur des Wollens, sondern auch der Bereitschaft, dafür einzustehen und diese Werte zu verteidigen. Die Politik muss den Menschen ein Leben ohne Furcht vor äußeren Angriffen oder Unterdrückung im Innern ermöglichen. Der Zustand, der dies verwirklicht, ist der Friede. Freiheit kann sich nur entwickeln, wenn der innere Frieden gesichert ist.
Dieser innere Frieden ist Garant gegen ein Recht des Stärkeren und schützt den Einzelnen vor Unterdrückung und Willkür. Der Friede darf daher nicht nur auf Macht, sondern muss auf Recht und Gerechtigkeit beruhen. Damit der Konflikt zwischen Bürgern und Gruppen nicht zu Gewalt führt, muss das Gewaltmonopol beim Staat liegen.
Der internationale Frieden kann nur erreicht werden, wenn die Ursachen von Furcht und Misstrauen zwischen den Staaten und Völkern realistisch gesehen und bewertet werden. Frieden und politische Entspannung sind geografisch unteilbar. Wer in Europa von Frieden spricht, aber in Arabien Stellvertreterkriege führt, das Völkerrecht bricht, leistet nicht den notwendigen Beitrag zum Frieden in der Welt.
Die Beseitigung aller Atomwaffen ist ein großartiges Ziel. Auf sie zu verzichten, während Russland sein Potenzial ausweitet, wäre verantwortungsethisch nicht gerechtfertigt. Zum dauerhaften Frieden gehört eine ehrliche, ausgewogene und gegenseitig überprüfbare Abrüstung des gesamten Waffenpotenzials. Alle Friedenskonzeptionen von der Weltfriedensidee Alexanders des Großen, der Pax Romana über christliche Gottes Staatsideen, Kants Schrift zum Ewigen Frieden, das Friedensbündnis der Heiligen Allianz von 1815, die internationalen Friedenskongresse des 19. Jahrhunderts, die Friedenskonferenzen in Den Haag, Völkerbund, Ächtung des Krieges im Kellogg Pakt 1928, UNO Charta von 1945 bis zur Wiedervereinigung Deutschlands und Europas 1990 konnten bisher einen umfassenden und dauerhaften Frieden nicht erreichen.
Michail Gorbatschow: Paradigmenwechsel der Weltpolitik
Zeitweilig waren wir der großen Friedensidee sehr nahe. Michail Gorbatschow war es, der 1989/ 90 einen Paradigmenwechsel der Weltpolitik einleitete. Die Wiedervereinigung Deutschlands, die Wiederherstellung der Souveränität der mittel- und osteuropäischen Völker, der Rückzug der sowjetischen Truppen bis hinter die Grenzen Russlands waren einmalige Ereignisse. Dies war nur möglich durch ein menschliches und politisches Vertrauen, das Michail Gorbatschow mit Helmut Kohl, die damaligen Führungskräfte der Sowjetunion mit der deutschen und westlichen Politik verband.
Ohne das Vertrauen von Michail Gorbatschow zu George Bush und die untrügliche Partnerschaft von George Bush zu Helmut Kohl und der deutschen Politik wäre der 2 + 4 Vertrag und damit eine Neuordnung Europas nie möglich gewesen. Eine gemeinsame Währung in Deutschland hat die Wiedervereinigung irreversibel gemacht. Die gemeinsame Währung in Europa hat trotz mancher Probleme dazu geführt, dass Europa die Krisen der letzten Jahrzehnte besser bestanden hat als mit nationalen Egoismen. Der erste Vorsitzende der Christlich Sozialen Union, Josef Müller - Ochsensepp genannt -, forderte 1946 eine gemeinsame Währung in Europa, weil Länder mit einer gemeinsamen Währung nie mehr Krieg gegeneinander führen würden.
30. Jahrestag der deutschen Einheit
Am 3. Oktober 2020, dem 30-jährigen Jubiläum der Einheit Deutschlands habe ich auf einer Gedenkveranstaltung mit dem Bischof von Augsburg in der Basilika von Ottobeuren die Rolle Michail Gorbatschow gewürdigt. In einem bewegenden Brief vom Dezember 2020 bedankte er sich dafür und nannte diesen Jahrestag ein wahrhaft historisches Ereignis. Obwohl er schon ein Jahr nach der Wiedervereinigung Macht und Amt verlor, ist er bis heute stolz darauf, den ersten Impuls für diese Entwicklung gegeben zu haben. Er gratuliere allen Deutschen zum 30. Jahrestag der deutschen Einheit. Sein Schlusssatz lautet "Ich drücke ihre Hand fest."
Es war in schwieriger Zeit möglich, im letzten Jahrzehnt eines unfriedlichen Jahrhunderts, großartige Ziele zu verwirklichen. Auch in unserer Zeit gilt es, unsere demokratische Staatsform und unsere Souveränität zu achten und zu verteidigen, im gemeinsamen Europa unseren Platz in der Welt zu gewinnen und die Hand nach Osten auszustrecken, wenn Russland seinen Beitrag zur Respektierung des Völkerrechts und dem europäischen und internationalen Frieden erbringt.
Das mit unermüdlicher Energie anzugehen bleibt weiterhin ein Meisterstück der politischen Vernunft.