Gastbeitrag von Karl Kern: Alles Brüder und Schwestern

Nächster Gastbeitrag in der AZ-Serie "Wie Frieden wahren?" Pater Karl Kern und seine Gedanken zur Friedensvision von Papst Franziskus.
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Februar 2019, Abu Dhabi: Scheich Ahmed al-Tajjib, Großimam der Al-Azhar-Universität in Kairo mit dem Premierminister der Vereinigten Arabischen Emirate, Scheich Muhammad bin Raschid Al Maktum und Papst Franziskus. Es ist der erste päpstliche Besuch auf der Arabischen Halbinsel.
Februar 2019, Abu Dhabi: Scheich Ahmed al-Tajjib, Großimam der Al-Azhar-Universität in Kairo mit dem Premierminister der Vereinigten Arabischen Emirate, Scheich Muhammad bin Raschid Al Maktum und Papst Franziskus. Es ist der erste päpstliche Besuch auf der Arabischen Halbinsel. © Mohamed Al Hammadi/Ministry of Presidential Affairs/dpa

Am 4. Februar 2019 erklärten Papst Franziskus und der Großimam Ahmad Al-Tayyib, geistiges Oberhaupt von mehr als einer Milliarde Sunniten, "mit Festigkeit, dass Religionen niemals zum Krieg aufwiegeln und keine Gefühle des Hasses, der Feindseligkeit, des Extremismus wecken und auch nicht zur Gewalt oder zum Blutvergießen auffordern".

Dieser epochale Aufruf von Abu Dhabi ist ein interreligiöses Dokument für Frieden, Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit. Im Schlussakkord des Rundschreibens "Fratelli tutti" vom 4. Oktober 2020 bezieht sich der Papst auf diese Erklärung vom Jahr zuvor. Er wendet sich mit seiner Enzyklika "an alle Brüder und Schwestern", um der Menschheit seine Vision von "Geschwisterlichkeit und sozialer Freundschaft" vorzulegen.

Der 71-jährige Karl Kern aus Obernburg am Main trat 1968 dem Jesuitenorden bei. Er war Gymnasiallehrer für Deutsch, Geschichte und Religion. 1976 wurde er in St. Michael in München zum Priester geweiht, wo er heute Kirchenrektor ist. Foto:
Der 71-jährige Karl Kern aus Obernburg am Main trat 1968 dem Jesuitenorden bei. Er war Gymnasiallehrer für Deutsch, Geschichte und Religion. 1976 wurde er in St. Michael in München zum Priester geweiht, wo er heute Kirchenrektor ist. Foto: © St.M

"Die Botschaft hör ich wohl, allein, mir fehlt der Glaube!", mag mancher mit Goethes Faust wehmütig ausrufen. Werden wir nicht wöchentlich mit religiös motivierter Gewalt, mit islamistischem Terror konfrontiert? Zieht sich nicht durch die europäische Geschichte die blutige Spur der Religionskriege? Wurden nicht außereuropäische Kulturen im Kielwasser des europäischen Imperialismus platt gemacht, und das im Namen des Christentums?

Wenn aus Religion Ideologie wird

In der Tat: Religionen mit dem Anspruch auf universale Wahrheit tragen in sich die Tendenz, die eigene Weltdeutung und Kultur mit Gewalt anderen zu oktroyieren. Vom religiösen Totalitarismus haben sich der Papst und der Großimam aber klar verabschiedet. Sie wollen Toleranz und weltweite Geschwisterlichkeit fördern. Sie betonen, dass gläubige Menschen im Bewusstsein, allesamt Kinder Gottes zu sein, die große Vision des Friedens ausgestalten können.

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Papst Johannes Paul II., der 1986 erstmals zu einem Friedensgebet der Religionen nach Assisi einlud, erklärte im Jahr 1991: "Wenn es keine transzendente Wahrheit gibt …, gibt es kein sicheres Prinzip, das gerechte Beziehungen zwischen den Menschen gewährleistet." Die Ausrichtung auf den nie fassbaren Gott, die ehrliche Gottsuche sollte die Menschen aller Religionen hindern, Gott für eigene Interessen zu missbrauchen. Sonst wird aus Religion Ideologie.

Individueller Konsumismus beutet Großteil der Menschheit aus

Wahre Religion lebt von der Vision einer universalen Liebe und Barmherzigkeit. Dieser Traum nährt sich aus dem Glauben an den einen Gott, der - nach christlichem Verständnis - Liebe ist und jedem Menschen eine unantastbare Würde gibt, ob er an Gott glaubt oder nicht. Wird der Mensch nicht als "Zweck an sich selbst" (Immanuel Kant) verstanden, breiten sich die modernen Totalitarismen aus, die Papst Franziskus als "Schatten einer abgeschotteten Welt" im ersten Teil von "Fratelli tutti" ins Licht rückt: Populismus als nationale Ideologie, gepaart mit "Formen des Egoismus und des Verlusts des Sozialempfindens"; ein Wirtschaftsmodell des individuellen Konsumismus, das bestimmte Bevölkerungsgruppen und Weltregionen bevorzugt und einen Großteil der Menschheit ausbeutet.

Wenn allein der Profit zählt, werden Grundrechte, wird die Gerechtigkeit geopfert. So geht "der Geschmack an Geschwisterlichkeit verloren". Stattdessen breiten sich nur "Ablenkung, Verschlossenheit und Einsamkeit" aus. Gerade die jetzige Pandemie sollte der Menschheit ins Gewissen rufen, "eine weltweite Gemeinschaft in einem Boot zu sein". Es brauche heute mehr denn je die Vision einer solidarischen Weltgemeinschaft.

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"Der universale Frieden kann nur von unten wachsen"

Die "Zunahme der Innovationen in Wissenschaft und Technik" müsse einhergehen "mit einer immer größeren Gleichheit und sozialen Inklusion". "Unsere Lebensstile, unsere Beziehungen, die Organisation unserer Gesellschaft und vor allem der Sinn unserer Existenz" seien zu überdenken. Eine neue "Kultur der Begegnung" sei zu entwickeln. Da sind wir alle, ob gläubig oder nicht, angesprochen, um Frieden mit uns selbst und mit unseren Nächsten zu schaffen. Der universale Frieden kann nur von unten wachsen.

Frieden stiften und sichern, ist ein mühsamer Prozess und erfordert geduldigen Einsatz. Ausgangspunkt ist die Einsicht, dass der Wert der globalen Gemeinschaft größer ist als das, was einzelne Gruppen, Schichten, Nationen oder Kulturen wollen. Dahinter steht die Vision der einen Menschheitsfamilie.

Der Papst bringt die personale Dimension in die Politik ein. Friede ist mehr als die Abwesenheit von Krieg. Vor allem Menschen mit politischer Verantwortung seien gehalten, "die oft vergessene und unbeachtete Würde" aller Menschen zu fördern. "Ungleichheit und fehlende ganzheitliche Entwicklung" von Menschen machen eine Friedensbildung unmöglich. "Ohne Chancengleichheit finden die verschiedenen Formen von Aggression und Krieg einen fruchtbaren Boden."

Nach jahrzehntelangem Terror und bürgerkriegsartigen Zuständen fanden Protestanten und Katholiken 1998 in Nordirland zusammen: Der nordirische Ministerpräsident Ian Paisley (links) von der protestantischen DUP und sein Sinn-Fein-Stellvertreter Martin McGuinness (2007).
Nach jahrzehntelangem Terror und bürgerkriegsartigen Zuständen fanden Protestanten und Katholiken 1998 in Nordirland zusammen: Der nordirische Ministerpräsident Ian Paisley (links) von der protestantischen DUP und sein Sinn-Fein-Stellvertreter Martin McGuinness (2007). © Paul Faith / dpa

"Jede Religion ist ein Deutungsmodell von Welt"

Hinter allem steht das Bemühen, das Böse durch das Gute zu überwinden, wie es Paulus im Römerbrief ausdrückt (Röm 12,21). Wut und Rachegedanken machen die eigene Seele krank und führen zu einer endlosen Kette von Rachefeldzügen. Dabei heißt Frieden schaffen gerade nicht, Konflikten aus dem Weg zu gehen. Frieden und Versöhnung werden "im Konflikt erreicht, wenn man ihn durch Dialog und transparente, aufrichtige und geduldige Verhandlungen löst". Auch hier gilt das Grundprinzip: "Die Einheit steht über dem Konflikt."

Jede Religion ist ein Deutungsmodell von Welt und Existenz mit Bezug auf eine weltjenseitige Wirklichkeit. Gott, der Frieden und Versöhnung will, motiviert den glaubenden Menschen, sich für den Frieden einzusetzen, selbst im Scheitern. Das christliche Grundsymbol des Kreuzes ist sprechendes Zeichen für die Brutalität und Gewalt, die in der Welt regiert. Doch das Kreuz ist für gläubige Christen primär ein Hoffnungszeichen. Es weist über sich hinaus auf die Auferweckung des Gekreuzigten. Das erste Geschenk des Auferstandenen an seine verängstigten Anhänger, als er geheimnisvoll durch verschlossene Türen eintrat, war: "Friede euch! (Joh 20, 19.21)" Das ist feste Zusage und Appell zugleich. Christen sollten den Frieden verbreiten, sollten Frieden stiften, weil sie an den universalen Frieden glauben.

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Papst Franziskus spricht von einem "Weltkrieg in Stücken"

Krieg ist nach der Wahrnehmung des Papstes "kein Gespenst der Vergangenheit, sondern ist zur ständigen Bedrohung geworden". "In unserer Welt gibt es nicht mehr nur 'Stücke' von Krieg in dem ein oder anderen Land, sondern einen 'Weltkrieg' in Stücken, weil die Schicksale der Nationen auf der Weltbühne zutiefst miteinander verflochten sind." Angeblich humanitäre, defensive oder präventive Vorwände, begleitet von manipulativer Information, provozieren heute kriegerisches Eingreifen. Franziskus verschärft die Aussagen des Katechismus der Katholischen Kirche, der unter strengen Bedingungen die Möglichkeit einer legitimen Verteidigung mit militärischer Gewalt für vertretbar hielt.

Er legt den Finger auf eine "allzu weite Auslegung dieses möglichen Rechts" und verweist darauf, dass die "Schäden und Wirren" infolge kriegerischer Handlungen oft "schlimmer sind als das zu beseitigende Übel". Der springende Punkt ist: "Durch die Entwicklung nuklearer, chemischer und biologischer Waffen und den enormen wachsenden Möglichkeiten der neuen Technologien" gerate der Krieg außer Kontrolle und treffe viele Zivilisten.

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Papst Franziskus setzt auf Friedenspotenzial der Religionen

Deshalb kann man heute nicht mehr von einem "gerechten Krieg" sprechen. Krieg ist keine Lösung mehr, sondern "Versagen der Politik und der Menschheit". Franziskus erinnert an Papst Johannes XXII. und seine Enzyklika "Pacem in terris" von 1963. Inmitten der Kubakrise brandmarkte der Konzilspapst den Krieg als ungeeignetes Mittel zur Wiederherstellung verletzter Rechte.

Für Franziskus dürfen Frieden und Solidarität "nicht auf ein falsches Gefühl der Sicherheit gegründet sein, auf die Androhung gegenseitiger Zerstörung oder totaler Auslöschung". Er fordert die Abschaffung von Atomwaffen und den Aufbau von Strukturen des Vertrauens. Freiwerdende Mittel sollten der Bekämpfung des Hungers dienen.

Der Papst setzt auf die Vereinten Nationen, doch vor allem auf das Friedenspotenzial der Religionen. Gott schaut mit Liebe auf jeden Menschen. Deshalb kann wahre Gottesverehrung "nicht etwa Diskriminierung, Hass und Gewalt" bedeuten, sondern "Achtung vor der Unverletzlichkeit des Lebens in der Achtung vor der Würde und Freiheit anderer und im liebevollen Einsatz für das Wohl aller".


"Fratelli tutti" - ein Schreiben, das über die Voraussetzungen und die Ziele einer Friedensordnung nachdenkt, eine visionäre Realutopie für die Eine Welt.

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