Fußabstimmung vor Mitternacht

Nigel Kennedy in der Philharmonie
von  Robert Braunmüller

Verständlich, dass einen Geiger die „Vier Jahreszeiten” nach einem Vierteljahrhundert Dauerbetrieb irgendwie anöden. Der unverwüstliche Alt-Punk Nigel Kennedy hat den gut abgehangenen Vivaldi mit Schubiduh und Schlagzeug ein bisschen nachgewürzt. Bei wilden Stellen wie im „Herbst” fährt dann der Geist von Jimi Hendrix in seine E-Geige. Das will und muss Musikkritikern nicht in jedem Fall zum Pläsier gereichen. Aber es gefiel dem nahezu ausverkauften Gasteig, was alle möglichen Gegenargumente entkräftet.

Wegen eingeschobener Schmuseklänge begann Kennedys ergänzende Eigenkomposition „Four Elements” erst gegen dreiviertel zehn. Dieser Crossover aus Klassik, Pop, Funk und Jazz wiederum wollte Popkritikern nicht wirklich gefallen. Bis halb elf fühlte man sich trotzdem pudelwohl. Rund 30 Minuten später beschwor Kennedy aber so lange die Harmonie, bis auch noch der Letzte zappelig wurde. Als langsam mit den Füßen über den Kunst- und Unterhaltungswert des Werks abgestimmt wurde, schaute Kennedy leider immer zufällig in die falsche Richtung.

Wieder ein Viertelstündchen später kam das selbstverliebte Opus nach vielen Schlussakkorden endlich zum Stehen. Der obligatorische Blumenstrauß wurde schnellstmöglich herbeigebracht. Kennedy wollte noch ein Betthupferl von einem „motherfucker” namens Thiele- oder Telemann spielen. Wer von beiden nun gemeint war, brachten wir nach einem langen Tag leider nicht mehr heraus.

Dem mit Pokerface aufspielenden „Orchestra of Peace” überwiegend polnischer Herkunft raten wir dringend zur Wiederbelebung seiner nationalen Tradition: Liebe Genossen! Organisiert Euch gewerkschaftlich und wählt einen Betriebsrat! Damit wir und ihr wieder noch vor Mitternacht zum Schlummern in die Heia kommen.

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