Fundstücke für Utopien
Ein Festival im Festival: SpielArt feierte drei Tage ein „Woodstock Of Political Thinking“. Und zeigte zwei Stücke aus Argentinien
Woodstock anno 2009 in München dauerte auch drei Tage, fand aber im Saal statt. „Woodstock Of Political Thinking“ im Haus der Kunst war ein 30-stündiges Festival der Politik, Wissenschaft und Kunst, realisiert von SpielArt. Wie damals war die Bandbreite groß: Hörsaaltaugliches über Schiller von Theaterakademie-Präsident Klaus Zehelein, überraschend Unspektaktuläres von Apo-Veteran Rainer Langhans, erstaunlich entfesselt der gerappte Koalitionsvertrag des Schauspielregisseurs Nicolas Stemann oder der 80-jährige Quantenphysiker Hans-Peter Dürr, der sich mit woodstock-würdiger Leidenschaft zum Jimi Hendrix des langen Wochenendes mauserte.
Vergnügtes Toben
Die argentinische Theatermacherin Lola Arias (sie inszenierte „Familienbande“ an den Kammerspielen) gab dabei einen Ausblick auf ihr nächstes Projekt. Bei SpielArt war ihr Stück „Mi vida después“ zu sehen: „Mein Leben danach“ im Argentinien nach Peron und der folgenden Militärdiktatur ganz ohne „Don’t Cry For Me, Argentina“. Um herauszufinden, was ihre Eltern während der Militärdiktatur getan haben, wühlen sich drei Frauen und drei Männer zwischen Mitte 20 und Ende 30 durch ihre alten Spielsachen sowie die Fotoalben oder übrig gebliebenen Audio- und Videokassetten. Immer wieder toben sie vergnügt wie Kinder durch Berge von Kleidung der Eltern. Sie anzulegen bedeutet auch, sich die Vergangenheit „anzuziehen“. Das gilt im Guten wie im Bösen, denn vor allem die Väter waren nicht nur Opfer, sondern auch Täter. Die vorwurfsfreie Freundschaftlichkeit, mit der die Mitspieler aus den authentischen Fundstücken ihre sehr unterschiedlichen Biografien montieren, gegenseitig betrachten und kommentieren, ist das utopische Element dieses Dokumentar-Theaters.
Medienschelte
Von den Verhärtungen einer von Diktatur traumatisierten Gesellschaft versucht hingegen die Argentinierin Beatriz Catani mit „Finales“, einem Schauspiel von kruder Poesie und brutaler Körperlichkeit, zu erzählen. Eine zu Beginn live zerquetsche Kakerlake und ihr Verenden wird zentrale Metapher und Subtext der deutschen Erstaufführung zugleich: „Die Kakerlake ist das Wappenungeziefer des passiven Widerstands“, heißt es zusammenfassend in diesem Wach-Albtraum diffuser Ängste, beliebiger Diskurse und flach profilierter Figuren.
Eine „Publikumsberatung“ der besonderen Art bietet der Schauspieler Leopold von Verschuer mit Texten der Autorin Kathrin Röggla an: Er erklärt in viertelstündigen Vorträgen nicht etwa das SpielArt-Programm, sondern will im Sinne von Unternehmensberatung das Publikum umstrukturieren und zu erfolgreichen Zuschauern machen. Noch sechs Mal (z. B. heute) kann man bei freiem Eintritt die boshaft-komische Medienschelte genießen – als subversiv ironische Fußnote des Theaterfestivals.
Mathias Hejny