Frischluft für das "Fliegende Klassenzimmer"

Die vierte Verfilmung von Erich Kästners Kinderbuch setzt ganz auf starke Mädchen
von  Philipp Seidel
Aus Martin und Johnny werden 2023 Martina (Leni Deschner, links) und Jo (Lovena Börschmann Ziegler), hier mit Matze (Morten Völlger) und Uli (Wanja Valentin Kube, rechts) vor dem Waggon des "Nichtrauchers".
Aus Martin und Johnny werden 2023 Martina (Leni Deschner, links) und Jo (Lovena Börschmann Ziegler), hier mit Matze (Morten Völlger) und Uli (Wanja Valentin Kube, rechts) vor dem Waggon des "Nichtrauchers". © Leonine

Der Zug fährt durch eine fast schon lächerlich schöne Berglandschaft in Südtirol. Er bringt die Berliner Schülerin Martina aus ihrem sehr grauen, armen Wohnviertel in ihr vorübergehendes neues Leben: Sie hat ein Stipendium bekommen für das renommierte Johann-Sigismund-Gymnasium im Städtchen Kirchberg. Dort landet sie sofort in der klassischen Konfliktsituation von Erich Kästners "Fliegendem Klassenzimmer": Zwei Schülergruppen vor Ort bekämpfen sich.

Bei Kästner war es ein Konflikt zwischen Gymnasiasten und Realschülern. Die Filme machten daraus bald eine Auseinandersetzung auf Ausbildungs-Augenhöhe. Auch diesmal streiten sich die Schüler aus dem Ort mit denen, die als "Externe" im Internat wohnen. Die haben Kirchberg streng untereinander aufgeteilt.


Die in Berlin lebende Schwedin Carolina Hellsgård hat die Geschichte nun zum Doppeljubiläum - 90 Jahre nach Erscheinen des Romans und 20 Jahre nach seiner letzten Verfilmung - modernisiert: Erstmals geben jetzt die Mädchen den Ton an - erstmals spielen sie überhaupt eine erkennbare Rolle. Und zum ersten Mal gibt es eine ethnische Vielfalt. Beides wird aber nicht eigens thematisiert, was gut ist.

Aus Martin wird also kurzerhand Martina (Leni Deschner), aus Johnny wird Jo (Lovena Börschmann Ziegler). Die beiden teilen sich ein Zimmer im Internat und müssen sich miteinander arrangieren, die Arme und die Elternlose.

Als weitere alte Bekannte treffen wir unter anderem den gutmütigen Matze (Morten Völlger) und den schmächtigen Adligen Uli (Wanja Valentin Kube) wieder, dessen Mutprobe auch in dieser Verfilmung einen Wendepunkt markiert.

"Das fliegende Klassenzimmer" ist in erster Linie eine Geschichte über Freundschaft, wie es der Erzähler auch gleich zu Beginn ankündigt. Hier ist es eine Geschichte vom Entstehen einer Freundschaft - Martina und Jo - und, wie gehabt, vom Wiederfinden einer Freundschaft in der Erwachsenenwelt, wie wir sie von Kästner kennen. Mit Hilfe der Kinder finden zwei Jugendfreunde wieder zueinander.

Sie hatten sich lange aus den Augen verloren: Tom Schilling ist als Justus Bökh vermutlich der freundlichste Internatsleiter der Filmgeschichte, der sich in den Ferien hinsetzt, um mit Martina für die große Prüfung zu lernen. Und Trystan Pütter spielt den Lebenskünstler Robert "Nichtraucher" Uthoff ganz stark. Das ist schon eine echte Marke, der da im alten Eisenbahnwaggon wohnt.

Die drei bisherigen Verfilmungen des "Fliegenden Klassenzimmers" haben eigene Akzente gesetzt. An der ersten (1954) hat Erich Kästner noch selbst mitgeschrieben. In der zweiten von 1973 - bis heute das "Klassenzimmer" der Herzen - mit Blacky Fuchsberger, Heinz Reincke, Bernd Herzsprung und Peter Kraus hat der Autor gar selbst mitgespielt.

Im Münchner Hofgarten setzt sich der berühmte Schriftsteller am Ende zu Johnny Trotz an den Tisch und gibt sich als "guter Freund guter Freunde" zu erkennen - und gibt dem Publikum noch einmal die Essenz der Geschichte mit auf den Weg.

2003 kam, nach langer Pause, die Fassung von Regisseur Tomy Wigand ins Kino, die sich von der Buchvorlage etwas wegbewegte und die Handlung zu den Schülern des Thomanerchors in Leipzig verlegte. Sebastian Koch glänzte darin als Nichtraucher an der Seite von Ulrich Noethen als Chorleiter Justus.


Carolina Hellsgård bringt nun zwei Jahrzehnte später mit dem Drehbuch von Gerrit Hermans eine abermals modernisierte Geschichte ins Kino. Das ist verdienstvoll und nötig, weil sich ja gerade die Zielgruppe der jungen Zuschauer in den Personen der Geschichte wiederfinden soll. Und das geht dann vielleicht doch am besten, wenn man beim Anblick der Schülergardrobe nicht "Ach ja, die frühen 2000er" denkt. Und: Der Film bildet neben diesen modischen auch die gesellschaftlichen Veränderungen ab, was sicher das größte Verdienst ist.

Dabei übertreibt Hellsgård es mit der Gegenwart aber auch nicht: Smartphones kommen - so viel Abweichung von der Realität muss dann schon sein - nur dort zum Einsatz, wo sie für die Handlung wichtig sind. Kirchberg ist so anheimelnd wie die frühen Handlungsorte. Gleichzeitig gewinnt sie durch einige Schauplätze wie einen See auch optisch an Weite.

Diese gesellschaftliche wie landschaftliche Frischluft tut dem Film gut. Ein wenig verstörend ist, dass die Schüler auch heute noch ihren Streit in einer handfesten und ziemlich brutalen Prügelei mit Faustschlägen und Fußtritten austragen, wobei der Ton noch harte Schlaggeräusche dazugibt. Da hätte man sich doch vielleicht etwas weniger Realismus gewünscht.

Und der Konflikt, der seit Generationen die Schülerschaft einer Stadt trennt, wird dann etwas arg flott gelöst. Immerhin: Den Weg dahin ebnet die gemeinsame Arbeit am Theaterstück, eben das "Fliegende Klassenzimmer". Kästners Geschichte, Kästners Themen, das zeigt der Film, sind zeitlos.

D 2023, 90 Min., von Carolina Hellsgård
Kino: ABC, Cadillac, Mathäser, Museum, Neues Rex

Die vierte Verfilmung von Erich Kästners Kinderbuchklassiker
"Das fliegende Klassenzimmer" setzt ganz auf starke Mädchen

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