Friedrich Anis neuer Roman: "Der namenlose Tag"
Vor 20 Jahren erhängte sich die erst 17-jährige Esther, ein Jahr später folgte ihr die Mutter. Nun ruft Ludwig Winther den damals ermittelnden Kommissar an, er habe eine neue Theorie zum Tod seiner Tochter. Und Kriminalhauptkommissar Jakob Franck, seit zwei Monaten in Pension, lässt sich nicht lange bitten. Er will Winther helfen, seinen Frieden mit dem Tod zu machen, auch wenn er selbst mit den Toten durch seine langjährige Berufskarriere sein Leben teilt. So beginnt in dem Roman „Der namenlose Tag“, mit dem Friedrich Ani seinen neuen Ermittler einführt, eine intensive, spannende Reise in das Schattenreich der Seele.
AZ: Herr Ani, Sie haben eine neue Krimifigur erfunden, wir lernen Hauptkommissar Jakob Franck aber gleich als Rentner kennen. Haben Sie keine Lust mehr, die Polizeiarbeit zu beschreiben?
FRIEDRICH ANI: Das Beschreiben von Polizeiarbeit finde ich im Kriminalroman generell schwierig, weil die einfach sehr technisch geworden ist. Wenn man das präzise beschreiben möchte, verliert man sich im Technizismus, der mich als Erzähler nicht weiterbringt. Meine Ermittler aber sind eher archaische Typen, die kommen aus einer anderen Zeit und haben noch andere Mechanismen drauf, die auch funktionieren. Intuition und Menschenkenntnis sind 90 Prozent, Kriminalistik sind zehn Prozent, die einen guten Kommissar in der Realität ausmachen. Jakob Franck war sein Leben lang berufstätig. Jetzt ist er gerade mal zwei Monate in Pension und nimmt die erste Chance wahr, die sich ihm bietet, um wieder ermitteln zu können. Das halte ich für sehr realistisch.
Obwohl Franck anders ist als ihre Krimifiguren Polonius Fischer und Tabor Süden, hat das Buch einen vertrauten Ton für den Leser Ihrer Romane.
Ich sehe meine Romane als Variationen eines Themas, das ich in verschiedenen Konstellationen durchspiele. Ich kann auch nicht außerhalb von mir eine Figur erfinden. Insofern ist Jakob Franck auch Teil von mir, wie es die anderen Figuren sind. Andererseits muss ich sagen, dass ich ohne die Recherchen und Gespräche mit Kommissaren, die Todesnachrichten überbringen, nicht auf diese Figur gekommen wäre. Franck hat diese Rolle des Überbringers der fürchterlichen Nachricht angenommen. Ich selbst habe einen Menschen kennengelernt, der so etwas gemacht hat. Der das konnte. Und oft wird man die Toten dann nie wieder los ...
In einer Szene des Romans umarmt Jakob Franck die Mutter eines gestorbenen Mädchens sieben Stunden lang, schweigend.
Das ist eine Szene, bei der die Leser wohl denken, sie sei völlig übertrieben. Aber ich habe sie nicht erfunden. Ich habe eine Kommissarin getroffen, der genau das passiert ist. Erstaunlich, dass so etwas physisch überhaupt funktioniert. Solche Szenen werden im Kriminalroman ja selten beschrieben, weil sie zu düster sind oder zu schwer oder die Handlung bremsen oder zu tief in die Seelen vordringen. Aber die Arbeit von Kommissaren ist geprägt von genau solchen Begegnungen mit Opfer-Angehörigen, mit Menschen, die aus der Welt fallen, die den namenlosen Tag erleben müssen. An diesem Punkt springe ich in die Bresche. Mein Hauptthema in meinen Kriminalromanen ist Empathie und der Schmerz und die Hoffnung von Hinterbliebenen auf verschiedenen Ebenen.
Wird Ihnen das nicht manchmal zu schwermütig?
Ich versuche beim Schreiben, meinen Figuren und deren Stimmungen zu folgen, und die muss ich dann aushalten und in Form bringen. Ich lasse mich aber nicht unterkriegen. Ich schreibe fast immer morgens und vormittags, mit klarem Kopf. Einen Roman zu schreiben, ist für mich so etwas wie ins Leben zu gehen, loszulassen, zu fliegen. Ehrlich gesagt, schreibe ich über diese Themen, weil ich sie so mit anderen Menschen erlebt habe. Die verlorenen Seelen haben mich immer angezogen oder umgekehrt: Ich gehe irgendwo hin und treffe auf Leute, die auf eine bestimmte Weise zerfleddert sind, innerlich. Ich suche das nicht, ich gehe nicht gezielt in solche Milieus. Mir ist das schon als Jugendlicher passiert, dass Leute zu mir gekommen sind und mir ihr komplettes Leben erzählt haben.
Sie haben wahrscheinlich im Gegenzug nicht viel von sich erzählt.
Nein. Ich wolle immer unsichtbar sein, zuhören. Ich wollte diese Geschichten aufschreiben und unter Pseudonym veröffentlichen, aber mir ist keines eingefallen, außer Tabor Süden. Und mir war schnell klar, dass so ein Autorenname nicht funktioniert. Alle Protagonisten in meinen Kurzgeschichten, die ich als Jugendlicher geschrieben habe, hießen dann halt Tabor Süden.
Ein großer Fundus?
Diese Geschichten habe ich alle vernichtet. Ich vermisse sie heute nicht, aber ich habe auch wieder und wieder meine Tagebücher vernichtet. In einem Akt der Selbstvernichtung wollte ich das weg haben. Ich wollte mich selber abschaffen. Eine Art Thomas Bernhardscher „Auslöschung“.
Das Mädchen, das sich erhängt hat, litt unter dem Schweigen in der Familie, auch ein Thema, das bei Ihnen häufig wiederkehrt.
Das Schweigen hat verschiedene Töne, es kann einen verwunden, aber es kann auch vertraut sein oder befreien. Es kann eine Waffe sein. In einer Familienkonstellation ist Schweigen so etwas wie ein Todesurteil. Wenn das Schweigen einmal da ist, ist das so wie eine schwarze Tinte, die sich im Wasser ausbreitet, und es ist wahnsinnig schwer, die wieder herauszubekommen. Ich bin von Haus aus eher schweigsam. Ich habe das Schweigen von meinen Vater geerbt. Der war, wie ich später erfahren habe, zwar sehr gesprächig in seiner Arztpraxis, aber Zuhause ein großer Schweiger.
Hat er Sie unterstützt, als Sie Schriftsteller werden wollten?
Ich musste selbstverständlich Widerstände überwinden. Mein Vater hat nach meinen Buchveröffentlichungen nie mit mir darüber gesprochen. Meine Mutter hat mir mal erzählt, dass er meine Arbeit wohlwollend verfolgt hat. Und natürlich hat es geholfen, dass Erfolg dazu kam. Auf der anderen Seite glaube ich, dass die Welt, die ich beschreibe, und meine Lebensweise, ihm recht fremd geblieben sind.
Sie haben in diesem Jahr bei politischen Veranstaltungen gegen Rassismus und für mehr Toleranz gegenüber Flüchtlingen Ihre Stimme öffentlich eingebracht.
Mein Vater kam aus Syrien, meine Mutter stammt aus Schlesien, insofern ist das ein Thema, das mich persönlich angeht. Außerdem ist es schwer bis unmöglich, dem Charme von Till Hofmann zu widerstehen, der mich gebeten hat aufzutreten. Aber ich habe ihm gesagt, wenn mir kein persönlicher Text einfällt, komme ich zwar vorbei, gehe aber nicht auf die Bühne. Ich will keine Moralpredigten halten.
Empfinden Sie die Gesellschaft in Deutschland als tolerant und den Flüchtlingen gegenüber empathisch?
Es gibt in Deutschland viele Menschen, die den Flüchtlingen offen, freundlich und mit konkreter Hilfsbereitschaft begegnen. Und es gibt natürlich auch die anderen in der Deckung, im Internet, demonstrierend oder gewaltbereit auf der Straße. Wir müssen das aus der Mitte der Gesellschaft heraus hinbekommen, solche Menschen zu überstimmen. Das scheint in Deutschland, zumindest momentan, besser zu funktionieren als in England oder Frankreich, von Ungarn ganz zu schweigen. Aber die Stimmen aus der Politik, auch aus der Regierung, sind erschreckend hilflos: viel Schaumschlägerei, Polemik und Fischen am rechten Rand. Ich vermisse eine laute Stimme aus dem Parlament, die deutlich sagt, dass Empathie ein unbedingter Wesenszug jeder demokratischen Lebensform ist.
Friedrich Ani: „Der namenlose Tag“ (Suhrkamp Verlag, Berlin. 300 Seiten, 19,95 Euro) Buchpremiere in München: Donnerstag, 17. September um 19.30 Uhr im Substanz Club, Ruppertstraße 28
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- Till Hofmann