Freigelegte Abgründe
Uraufführung: In „Rechnitz (Der Würgeengel)“ sucht Elfriede Jelinek nach einer neuen Form fürs Graben im Unterbewusstsein der Geschichte
Kurz vor Kriegsende auf Schloss Rechnitz in Österreich: SS-Leute und lokale Nazi-Getreue feiern ein Fest und erschießen dabei unter bis heute ungeklärten Umständen 200 jüdische Zwangsarbeiter. Eine ungeheuerliche und fast vergessene Geschichte – die Vorlage für Elfriede Jelineks Stück „Rechnitz (Der Würgeengel)“, das heute an den Kammerspielen uraufgeführt wird. Regie führt Jossi Wieler – der nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Interview jedes Wort sorgfältig abwägt. Der vielfach ausgezeichnete Schweizer Regisseur (57) ist der Jelinek-Spezialist unter den Theatermachern.
AZ: Herr Wieler, „Rechnitz“ ist starker Tobak. Sind Männer immer Nazis, Mörder und Vergewaltiger?
JOSSI WIELER: So kann man an dieses Stück gar nicht herangehen. Elfriede Jelinek versucht hier etwas zum Thema Drittes Reich, das so noch nie versucht wurde. Das Entscheidende ist das „Reden über“, nicht die Fakten an sich. Das Geschehene liegt dem zugrunde, aber es wird nicht dokumentiert. Es geht um die Frage, wie wir uns zur Katastrophe stellen. Reden wir darüber? Was erinnern wir davon überhaupt noch?
Warum gerade jetzt diese grausame Geschichte aus den letzten Kriegstagen 1945?
Elfriede Jelinek hat sich immer für das Verdrängte, das Verborgene, das Verschüttete im gesellschaftlichen und kulturellen Bewusstsein interessiert. Es geht ihr um das Freilegen dieser Schichten, das Graben im Unterbewusstsein.
Um Abgründe, was Menschen einander antun können?
Vielleicht führt das Nachdenken auch dahin. Aber in erster Linie geht es um eine verschüttete Begebenheit, die wiederum emblematisch für einen größeren Zusammenhang steht: den Umgang mit dem Vergangenen generell. Der Text ist geschrieben als Botenbericht, wie im antiken griechischen Drama. Und der Bote dokumentiert nicht einfach, er bedient Voyeurismus, befriedigt auch seine eigene Sensationslust.
Wie letztlich alle menschlichen Medien.
Genau. Und dabei verformt sich auch die historische Wahrheit.
Gehört Geschichtsforschung nicht ins Theater?
Forschung vielleicht nicht. Aber die Beschäftigung mit Geschichte und dem Bewusstsein des Erinnerns durchaus.
Auf dem Theaterplakat sieht man tote Schweine. Kalkulieren Sie mit einem Skandal?
Das Plakat zeigt von Jägern erlegtes Wild. Im Text geht es unter anderem um eine Jagdgesellschaft und ihre Rituale.
Sind Sie unglücklich über das Plakat?
Nein. Man könnte sagen, es verstört. Wie das Stück. Es geht nicht um Provokation. Jelinek versucht, dem Sprechen heute, der Art des Erinnerns nachzuhorchen. Eine gewisse Sensationslust ist dem Stoff eingeschrieben. Aber man darf nicht die Sensationslust mit Sensationslust bedienen.
"Rechnitz“ ist ein aktueller und politischer Stoff.
Das Stück hat eine gesellschaftspolitische Dimension. Aber es klärt nicht, weil es nicht klären kann. Es fordert heraus. Wir sagen so leicht, wir könnten über alles reden – das ist eine arrogante, süffisante, lakonische Haltung. Jelinek versucht eine Umkehrung des „Würgeengel“ von Bunuel: In dem Film verlassen die Dienstboten das Herrschaftshaus und die Herrschaft findet dann keinen Ausgang mehr. Jelinek dreht das gedanklich um: Die Herrschaft ist weg, die Opfer sind tot. Was machen wir heute mit einem solchen Verbrechen, für das nie jemand belangt wurde, von dem es keine Spuren gibt?
Sie sind „Jelinek-Spezialist“. Was hat die Autorin für Sie, das andere nicht haben?
Sehr viel. Unter anderem: Sie macht sich über Dinge Gedanken, die nicht an der Oberfläche liegen. Sie demaskiert Sprache über Sprache.
Wie nähern Sie sich ihrer Komplexität?
Wir tauchen in diese Schichten von Gedanken ein, um die vielen Differenzierungen deutlich machen zu können. Dazu reden wir in den Proben sehr viel, lesen das Stück laut.
Hat sie sich beteiligt?
Nicht direkt an der Inszenierung. Sie schenkt einem im übertragenen Sinn den Text, den aber jeder selbst für sich durchdringen muss. Es gab Treffen mit ihr und sie ist sehr kooperativ und genau. Aber ihr Part und unser Part – das sind verschiedene Arten von Arbeit.
Im Jelineks Regieanweisungen sind sogar Markenlabel der auf der Bühne getragenen Unterhosen festgelegt.
Da lässt sie größte Freiheiten, in dieser Hinsicht ist sie sogar einzigartig. Sie weiß, dass ihre Texte nicht Stücke im herkömmlichen Sinn sind. Ihre Szenen sind nicht bildverhaftet, meist nicht einmal situationsgebunden.
Michael Grill
Vorstellungen auch am 1.12. und 5.12. Tickets Tel. 54818181