Flaschenpost am Ring

Alles fließt: Der Medienkünstler Harun Farocki zeigt die Neuauflage einer Performance aus den 60er Jahren auf den „Seven Screens“ vor dem Osram-Haus in Untergiesing
von  Abendzeitung

Alles fließt: Der Medienkünstler Harun Farocki zeigt die Neuauflage einer Performance aus den 60er Jahren auf den „Seven Screens“ vor dem Osram-Haus in Untergiesing

Es gibt wieder Neues von einem Kunstwerk, das jeder motorisierte Münchner schon mal gesehen haben dürfte, wenn auch wohl nur für jeweils wenige Sekunden. Vor dem direkt am Mittleren Ring in Untergiesing gelegenen Osram-Haus bietet das Unternehmen auf sieben extrem hochformatigen Videoscreens seit einigen Jahren temporäre, exklusiv angefertigte, oft hochklassige Videoinstallationen, die hunderttausende Autofahrer im Vorbeifahren zumindest bemerken können.

Die bislang siebte Neubespielung stammt von dem Berliner Filmemacher und Medienkünstler Harun Farocki (66). Sein Konzept ist die Neuauflage einer legendären Fluxus-Aktion von Tomas Schmit aus dem Jahr 1963: Der hatte beim „Zyklus für Wassereimer (oder Flaschen)“ Milchflaschen zu einem Kreis aufgestellt, und dann Wasser von der einen in die nächste Flasche so lange umgegossen, bis die gesamte Flüssigkeit verdunstet oder verschüttet war.

Das „Vermeiden jeglichen Symbolismus’“ hatte Farocki an der Aktion fasziniert, sie sei ein „Beckett-Stück ohne Worte“.

Neuinszenierung

Für Osram hat der Documenta-Teilnehmer von 2007 nun – ganz im Sinne eines hinterfragenden Reenactments – die Flaschenpost von 1963 konsequent in die Technik-Welt von heute übersetzt: Zum Umgießen der Flaschen wurden mit Hilfe der TU München Roboter programmiert, deren Tun von sieben Kameras festgehalten wurde.

Das Ergebnis ist ein 20 Minuten langer Film, eine meditative Performance, deren buchstäblich fließende Optik gut mit dem Dauerrauschen des Mittleren Rings harmoniert. Die Frage bleibt allerdings offen, wie viel das fahrende Publikum von den Dimensionen der Aktion auch nur ahnen kann. Denn selbst beim ruhigen Betrachten von der etwas westlich von Osram über den Ring führenden Fußgängerbrücke aus, die eigentlich den besten Blick auf die Screens bietet, erschöpft sich die Botschaft der Videobilder in der ästhetischen Kongruenz zwischen Flaschen- und Screen-Format. Da war die Vorgänger-Installation auf der ungewöhnlichen Anlage – „Aqua – Silence“ von der isländischen Künstlerin Rúrí – doch um einiges weniger sperrig.

Vielleicht muss man es einfach so sehen: Wenn der übliche Auto-Rückstau von der Tunnelbaustelle am Kiesselbachplatz demnächst bis zum Sechzigerstadion reicht, dann kommt die Kunstbetrachtung in Untergiesing doch noch zu ihrem Recht.

Michael Grill

„Seven Screens: Harun Farocki/Umgießen“. Bis 21. 11. an der Giesinger Ausfahrt des Mittleren Rings vor dem Osram-Haus. Zu Fuß am besten via U-Bahn-Station Candidplatz

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