Filmfest München: Tipps der AZ-Redaktion
FILMFESTTIPP 1: Resi-Ensemblemitglied Liliane Amuat spielt
die weibliche Hauptrolle in Henrika Kulls Spielfilm "Südsee"
Flirren in der Luft
Ein Paar kommt in einem Haus an, das - so erfährt man später - dreißig Kilometer von Jerusalem entfernt liegt. Er, Nuri, lässt die Rollläden hochfahren. Der Blick wird frei auf eine Terrasse mit Swimmingpool. Sie, Anne, hat ein wenig Probleme, die Tür zur Terrasse aufzumachen. Nuri hilft ihr und meint zu ihr einladend: "Fühl dich wie zuhause!" "Zuhause?" sagt sie leise, während sie hinaus auf die Terrasse tritt. "Südsee" heißt der neue Film von Henrika Kull. Der Titel bezeichnet eigentlich die südwestliche Inselwelt des Pazifiks, doch letztlich ist "Südsee" nur das Passwort für das WLAN im Haus. Das Wasser dehnt sich hier nicht ozeanisch-endlos aus, sondern ist in dem Pool stark eingegrenzt. Von der Terrasse aus erblickt Anne eine Baustelle, auf der laut Nuri Palästinenser arbeiten. Immer wieder sind Alarmsirenen aus der Ferne zu hören. Immer wieder platzen am Himmel kleine Raketenwölkchen.
Dennoch haben sie Lust auf ein bisschen Urlaub, Anne und Nuri, die auf den zweiten Blick gar kein Paar sind. Über einen gemeinsamen Bekannten haben sie sich kennengelernt und verbringen nun zwei Tage in dem Haus von Nuris Eltern, das unter dem Schutz des Raketenabwehrsystems Iron Dome liegt. Die Nähe des Krieges, die habe man auch an dem Drehort gespürt, erzählt Liliane Amuat, die in dem Film die weibliche Hauptrolle spielt. "Die Präsenz des Iron Domes mit den verpuffenden Wölkchen am Himmel wurde erst in der Postproduktion hergestellt, aber die Hubschrauber, die immer wieder über das Haus fliegen, die Sirenen, die zu hören sind - das haben wir am Set genauso erlebt."
Zwei intensive Wochen lang ging der Dreh in Tel Aviv, das Filmteam war zur Hälfte deutschsprachig, zur Hälfte israelisch. Was Liliane Amuat sehr gefiel: "Es war eine tolle Kollaboration in dem kleinen Team. Dadurch, dass die Hälfte der Teammitglieder aus Israel war, habe ich viel über den Status quo in diesem Land gelernt."
Dennoch war der Aufenthalt in Tel Aviv recht kurz. Auch Anne und Nuri haben nicht viel Zeit, um sich näher kennenzulernen; ein Gefühl der Fremdheit liegt über ihnen, wobei sie allein schon beruflich einiges gemeinsam haben. Anne arbeitet als Regisseurin; am Drehbuch zu ihrem neuen Film, der von der Liebesgeschichte einer Deutschen zu einem traumatisierten israelischen Soldaten handeln soll, will sie im Urlaub weiterschreiben und verarbeitet dabei ihre gescheiterte Beziehung zu einem Israeli namens Or. Während sie davon spricht, dass sie Israel liebt, schwärmt Nuri von Berlin, wo er das Theater und die deutsche Sprache zu schätzen lernte.
"Sehnsucht ist das große Überthema des Films", so Amuat. "Vor allem die Sehnsucht nach einer Heimat, einem Zuhause. Damit verbunden ist die Suche nach der eigenen Identität: Wann ist man ganz bei sich selbst und wann stellt man für den anderen nur etwas dar?" Regisseurin Henrika Kull hat vorab ein Drehbuch mit klar definierten Dialogen geschrieben, wollte dann jedoch beim Dreh, dass die Darstellenden sich Freiheiten nehmen, damit der gedankliche Austausch von Anne und Nuri realitätsnah und lebendig wird. Auch gab es keine festen Drehpläne. Durch die improvisatorische Arbeitsweise konnte Amuat ihre Figur weitgehend selbst konturieren und eigene Anteile hinzufügen.
Die persönliche Biografie spielt auch bei ihrem Gegenüber, Dor Aloni, in die Rolle hinein: Aloni ist Schauspieler und Regisseur, hat dabei, ähnlich wie Nuri, an der Berliner Volksbühne und anderen deutschen Theatern Stücke inszeniert. So vermischt sich das "Echte" mit dem Fiktiven, das Spiel wirkt authentisch. "Wobei, was ist schon authentisch?", sagt Amuat. "Anne und Nuri versuchen immer wieder, authentisch zu sein, und kommen dabei stark ins Performen." Ob sich die erotische Spannung zwischen den beiden - gegen Ende gesellt sich eine Dritte zu ihnen - entlädt, soll hier nicht verraten werden. "Es sollte ein Flirren in der Luft entstehen", sagt Amuat. Das ist in diesem Film, in dem von der Handlung her wenig, zwischen den Zeilen und Körpern aber sehr viel passiert, hervorragend gelungen.
Bei der ersten Ansicht des kompletten Films habe sie Sehnsucht bekommen, noch mal nach Israel zu fahren, erzählt Liliane Amuat. Sie stammt aus Zürich und hat am Max Reinhardt Seminar in Wien Schauspiel studiert. Von 2011 bis 2015 gehörte zum Ensemble des Burgtheaters, dann zum Ensemble des Theaters Basels, woraufhin sie gemeinsam mit dem Baseler Intendanten Andreas Beck ans Residenztheater kam.
Und wo fühlt sie sich zu Hause? "Zürich wird immer eine Art Heimat sein, ich habe dort weiterhin einen großen Freundeskreis. Jetzt bin ich seit vier Jahren in München und bin hier zunehmend heimisch geworden, auch, weil wir uns im Ensemble mittlerweile gut kennen und verstehen. Letztlich ist das bei mir weniger vom Ort abhängig, als von den Menschen, mit denen ich mich verbunden fühle." (Michael Stadler)
Heute, Montag, Premiere, 18 Uhr, Sendlinger Tor Kino in Anwesenheit des Teams; wieder am Mittwoch, 28. Juni, 16 Uhr, City 2 und am Freitag, 30.6., 15.30 Uhr,(inklusive Q&A mit Liliane Amuat)
FILMFESTTIPP 2: "The Inspection": ein autobiografischer Film über die Marines und Identitätsfindung
Wer bei den US-Marines das Bootcamp durchläuft und nach der Grundausbildung zur Elite-Einheit gehören will, geht durch die Hölle. "Unser Job ist, sie nicht zu Marines zu machen, sondern zu Monstern" heißt das Mantra des Rekrutenschinder Laws. Er verspricht: "Ich werde Sie brechen". Erniedrigung, Gewalt und Körperliches-an-die-Grenzen gehen, ist an der Tagesordnung, nach der Devise, Schmerz sei die Schwäche, die den Körper verlässt. Wer wie Ellis French, schwarz und schwul ist, muss als Außenseiter noch mehr leiden. Homophobie herrscht nicht nur bei den Vorgesetzten, sondern auch bei den Rekruten. Elegance Bratton verarbeitet seine Traumata von vor 20 Jahren. Was die Wünsche, Ängste und das Hauptziel des Protagonisten angeht, ist alles authentisch. French, den seine religiöse Mutter wegen seiner sexuellen Neigung aus der Wohnung warf, der ab 16 Jahren auf der Straße lebte und dessen Freunde tot oder im Knast sind, will zu den Marines, weil er dann endlich jemand ist, auch wenn er in dieser Uniform stirbt. Die fiktionalisierten Darstellungen von realen Situationen sind manchmal hart. Nicht umsonst spricht man von der "Don't Tell, Don't Ask"-Zeit. Manche Szenen erinnern in ihrer Härte an "Full Metal Jacket", aber Jeremy Pope verleiht der ambivalenten Figur des French eine individuelle, intime Note. Zerrissen zwischen Selbstablehnung und Akzeptanz spiegelt sich in ihm nicht nur Brattons Geschichte, sondern die junger Männer und ihr Kampf um ein bisschen Menschlichkeit. Es geht um das Zähne Zusammenbeißen, das Durchhalten. Denn "wenn wir gehen, gewinnen sie", sagt French einem Moslem, den die Kommandierenden nur Taliban nennen, ihn misshandeln und ausgrenzen. Gleichzeitig erzählt der starke und sehr persönliche Film auch von der Beziehung zwischen Bratton und seiner Mutter, die ihn liebt, aber seine Homosexualität nicht akzeptieren kann. (Margret Köhler) Montag, 26. Juni, City, 22 Uhr
FILMFESTTIPP 3: Der Dokumentarfilm "The Return From the Other Planet" über Yehiel Feiner alias Ka Zetnik ist erschütternd und extrem sehenswert.
Wie schreibt man über das Unbeschreibliche? Bücher wie "Salamandrah" oder "Das Haus der Puppen" zeigen es. Ihr Autor kam unter dem Namen Yehiel Feiner ins Konzentrationslager nach Auschwitz und verließ es wieder als Ka-Tzetnik. Unter diesem Pseudonym schrieb er zahlreiche Bücher über diese Hölle auf Erden (eben: "den anderen Planeten"!) Seine Bücher wurden in seiner neuen Heimat Israel Bestseller. Ob man sie gelesen hat oder nicht, spielt für den Film "The Return From the Other Planet" keine Rolle. Assaf Lapids Dokumentarfilm funktioniert perfekt als Einführung ins verstörende Werk eines Traumatisierten, den die Geister der Vergangenheit nicht loslassen wollen und können. Am meisten verdeutlichte das wohl sein Zusammenbruch während seiner Aussage beim Eichmann-Prozess. Diese Szene gehört zu den eindringlichsten des ganzen Films. Um diese Geister doch noch unter Kontrolle zu bringen, ließ sich Feiner in den Niederlanden mit LSD therapieren. Daraus erwuchs ihm eine Erkenntnis, die gleichermaßen schockiert und beeindruckt. "The Return From the Other Planet" bleibt zwar in konventioneller Doku-Form, doch sein Sujet ist dermaßen aufwühlend, dass das nicht ins Gewicht fällt. So ist Assaf Lapids Film wahrlich keine einfache Kost, doch eine absolut notwendige. Seine wichtige Aussage hat dabei nicht nur etwas mit Vergangenheitsbewältigung zu tun, man kann sie universell nennen. Also: Hingehen! (Matthias Pfeiffer)
Montag, 26. Jubni, 20 Uhr, Amerikahaus plus Q&A mit Assaf Lapid, Theatersaal sowie morgen, Di, 27. Juni, 14.30 Uhr, HFF , plus Q&A mit Assaf Lapid und wieder am Do, 29. Juni, 17 Uhr, HFF