Feinschmecker im falschen Raum
Psychologisches Schach in der Tiefe des Raums: Pierre Audis brillant besetzter »Tamerlano« in der Staatsoper
In Drottningholm war Pierre Audis Inszenierung sicher sehr eindrucksvoll. Ins Nationaltheater passen aber viermal mehr Zuschauer wie ins schwedische Rokoko-Theater mit seinen 450 Plätzen. Sogar dessen Bretterbudenrückwand ließ der Regisseur nachbauen, statt sich den räumlichen Gegebenheiten der Staatsoper anzupassen.
Wer im Rang saß, hatte Pech. Offenbar sind beim Inszenierungs-Import Nachbesserungen nicht vorgesehen. Mit unverständlicher Sturheit beglückt die Aufführung nur die vorderen Parkettreihen. Von dort dürfen wundervolle Details bestaunt werden: Wenn der entmachtete Bajazet etwa auf den Ordensstern Andronicos schielt, Tamerlano seinem Vasallen einen Ring als Zeichen der Abtretung seiner Braut über den Finger schiebt oder die Darsteller im Kampf der Leidenschaften einfach nur heftig atmen und zittern.
Es dauert lange, ehe der einzige Stuhl umgeworfen wird und Barocktheaterwolken den grüngoldenen Guckkasten-Minimalismus des Bühnenbildners Patrick Kinmoth verhüllen. Audi versuchte, die mit den Händel-üblichen Liebeswirren versehene Auseinandersetzung zwischen dem Eroberer und seinem Opfer psychologisch zu erzählen. Zunehmend verlieren die Beteiligten ihre höfische Contenance, um sich auf Drottningholms nachgebauten Bühnenbrettern zu wälzen. Das sieht trotzdem geschmackvoll aus, rückt die Geschichte aber nur bedingt ans Herz des Zuschauers heran.
Auf den Rängen, die sich mit kräftigem Buh beim Regisseur beschwerten, blieb Subtiles wie Tamerlans Charakterisierung als Wüstling übers offene Rokokohemd wohl unsichtbar. Der Tiefe des Raums wurde nur psychologisches Schach gewährt. Das ist nicht wenig, weil Audi perfekt die Kunst beherrscht, den Stand der Auseinandersetzung in choreografisch sprechende Arrangements zu übersetzen. Und er weiß auch die Wiederholung in Da-Capo-Arien durch stumme Auftritte kunstvoll zu intensivieren.
Wenigstens blieb das musikalische Vergnügen für alle gleich. Eine bessere Händel-Besetzung wurde seit „Rinaldo“ in München nicht aufgetrieben. Koloratursicher brilliert der Countertenor David Daniels als Tamerlano. Mary-Ellen Nesis androgyer Mezzosopran war perfekt für die Hosenrolle des Andronico. Die schlank und zugleich ergreifend leidende Sarah Fox (Asteria) kontrastierte perfekt mit Maite Beaumonts selbstbewusster Irene.
Leise enttäuschte nur John Mark Ainsley als Bajazet: Die Stimme ist fürs Nationaltheater zu klein, und der Sänger übertrieb die anfangs eindringliche Darstellung eines verbittert-bösen alten Mannes zur Manier. Aber zuletzt ergriff er doch als wahnsinniger Lear und sterbender Seneca in einer Person.
Eine fade Bach-Passion auf Originalinstrumenten reicht, um die Bewunderung für das Staatsorchester unter Ivor Bolton weiter einmal zu steigern. Schlank und farbig klingen die Streicher, wunderbare Schattierungen der Lautstärke beleben die nie mechanisch heruntergespielte Musik. Nur ganz wenige Spezialensembles argumentieren mit einer ähnlich intensiven Klangrede.
Die Inszenierung schlürft sich nicht so süffig wie Sir Peters Pop-Spektakel. Mit Ausnahme der musikhistorisch bedeutenden Schlussszene ist „Tamerlano“ eine mittlere Händel-Partitur für Feinschmecker wie die in der Intendanzloge sitzende Krimiautorin Donna Leon. Wer mit dem Auge hört, muss für den vollen Genuss das Konto für eine Parkettkarte plündern, weil der Regisseur das Nationaltheater mit den Kammerspielen verwechselte.
Robert Braunmüller
Wieder am 19., 24., 28. 3. und 1. 4., 18.30 Uhr. Karten: Tel. 21 85 19 20