Exekutionen am Kopiergerät

Ein starker Beginn: Das Festival „Radikal jung“ im Münchner Volkstheater
von  Abendzeitung

Ein starker Beginn: Das Festival „Radikal jung“ im Münchner Volkstheater

Grässliche Morde und ein Kopiergerät als Hinrichtungsmaschine: Die ersten beiden Inszenierungen des Festivals „Radikal jung“ im Münchner Volkstheater warteten reichlich mit virtuellen Leichen auf. Blut floss allerdings nicht. Zum fünften Mal seit 2005 bündelt dieses Festival der jungen Regisseure die Themen, die die Generation um die 30 beschäftigen. Für Mareike Mikat (29) und Jette Steckel (27) sind das offenbar Gewalt und Wahnsinn oder der Wahnsinn der Gewalt.

Mareike Mikat leitet am Schauspiel Leipzig die Experimentierbühne Skala und hat dort Iwan Wyrypajews Stück „Juli“ inszeniert. Der 35-jährige russische Kultautor schickt seinen 63-jährigen Protagonisten Peter auf eine mörderische Reise ins Irrenhaus. Peters Haus ist abgebrannt, er ist ein Ausgestoßener. Er ermordet seinen Nachbarn und einen Penner, befördert einen Pfarrer zerstückelt ins Paradies und verleibt sich kannibalisch eine Krankenschwester ein. Mikat hat den Monolog verteilt auf einen Mann und drei junge Frauen: Andrej Kaminsky verkleidet sich als dicke Babuschka mit Kopftuch, die Mädchen in weißen Tanzkleidchen sind sein Widerpart, sind Engel, Verführerinnen, Putin-Jugend, Zukunft oder Erinnerung. Mikats starke Bilder illustrieren nie den Text, sondern sind assoziative Kommentare zu einer Gesellschaft im Wandel, die den Menschen an den Rand drängt und keine Werte mehr kennt.

Gescannte Zuschauer

Die Beliebigkeit aller Werte lehrt auch der junge römische Kaiser Caligula durch mörderische Willkürherrschaft. Albert Camus schrieb sein Stück „Caligula“ 1938, da war er 25. Jette Steckel, bereits 2008 bei „Radikal jung“ mit Bonds „Gerettet“ vertreten, hat es in einer sehr freien Version am Deutschen Theater Berlin inszeniert.

Beim Eintritt werden die Zuschauer von einem Kopiergerät gescannt, die verzerrten Bildnisse als Fotogalerie aufgehängt. Die Römer tragen Turnschuhe und T-Shirts, sitzen manchmal unter den Zuschauer und fordern sie zu Stellungnahmen auf. Den größenwahnsinnigen Cäsar spielt Mirco Kreibich als getriebenen Freiheitssucher zwischen Ekstase und Depression. Der Kopierer ist das Todesinstrument seines Nihilismus: Wer den Kopf auf die Platte legen muss, ist erledigt. Sich selbst stilisiert Caligula zum Erlöser: Er robbt über die Maschine, belichtet seine Körperteile und setzt die Kopien zum Bild eines Gekreuzigten zusammen. Mit Pirouetten und Ballettsprüngen zum Doors-Song „The End“ tanzt er sich wild in sein selbstmörderisches Ende.

Steckel integriert auch einen Diskurs über das Theater, die Schauspieler verweisen ebenso darauf, dass es ein Spiel sei, wie die abrupten, desillusionierenden Lichtwechsel, die gegen Ende den Aufführungsrhythmus zerstören.

Gabriella Lorenz

Eine Gebrauchsanweisung für Theaterbesucher

In der Düsseldorfer „Macbeth“-Inszenierung von Jürgen Gosch 2005 waren die Schauspieler fast alle nackt und besudelten sich immer mehr mit (Theater-)Blut, Kot und Urin. Ein Skandal? Jedenfalls löste die (übrigens von Kritikern hochgelobte) Aufführung eine heftige Debatte aus über das „Ekel“-Theater und ob man sowas auch noch subventionieren müsse. Die öffentliche Erregung lieferte Peter Michalzik den Sprechblasen-Titel seines Buches „Die sind ja nackt! Keine Angst, die wollen nur spielen.“ Michalzik, Jahrgang 1963, ist Theaterkritiker der „Frankfurter Rundschau“, und sein Buch trägt den Untertitel „Gebrauchsanweisung fürs Theater“.

Michalzik schreibt nicht für passionierte Theatergänger. Er schreibt für Menschen, die selten oder nicht ins Theater gehen, sei es aus Schwellenangst oder mangelnder Neugier, sei es, weil sie Klassiker langweilig und verstaubt finden oder weil sie mit dem modernen Theater nichts mehr anfangen können. Klar, verständlich, und unprätentiös erklärt der Autor die Grundlagen und Elemente des Theaters. Er beschreibt Schauspieler wie Joachim Meyerhoff und die Veränderungen der Spielstile über die Jahrzehnte. Er beleuchtet das Verhältnis von Bühnenräumen, Regie und Schauspiel.

Kurz und prägnant

Ein langes Kapitel ist den Regiesprachen von Theatermachern wie Frank Castorf, René Pollesch, Stefan Pucher, Christoph Schlingensief, Andreas Kriegenburg, Armin Petras, Christoph Marthaler und einigen Altmeistern wie Peter Stein, Peter Zadek und Andrea Breth gewidmet. Betrachtungen über junge Dramatiker und die Zusammenarbeit von Autoren und Regisseuren ergänzen den informativen Überblick übers deutsche Gegenwartstheater (ohne Anspruch auf Vollständigkeit). Am Ende liefert Michalzik sogar noch eine kurz und prägnant gefasste Theatergeschichte von den alten Griechen bis heute.

Dieses Buch will kein Theaterführer sein, sondern ein Theaterverführer. Michalzik lässt sich nicht auf Grundsatzdebatten ein, sondern vermittelt Wissen ohne Besserwisserei. Für ihn ist das Wichtigste die Bereitschaft zum Erlebnis. Auch seine Beobachtungen über das Zusammenspiel von Publikum und Bühne und das Zuschauerverhalten im Foyer und Parkett sind hilfreich, um Hemmungen abzubauen. Er will aus der Last, die manchen ein Theaterbesuch bedeutet, wieder eine Lust machen. Und so ist diese nützliche Gebrauchsanweisung auch eine Liebeserklärung ans Theater.

Gabriella Lorenz

Peter Michalzik: „Die sind ja nackt! Keine Angst, die wollen nur spielen.“ (DuMont, 264 Seiten, 14.95 Euro)

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