Ex-Odenwald-Schüler Huckele: Deutschland ist Entwicklungsland
Als Jürgen Dehmers brachte er den Skandal um die Odenwaldschule ins Rollen.
In seinem Buch „Wie laut soll ich denn noch schreien – Die Odenwaldschule und der sexuelle Missbrauch“ schrieb er auf, wie sich sein Lehrer und Schulleiter jahrelang an ihm und seinen Mitschülern verging. Nun hat Dehmers sein Pseudonym aufgelöst und zeigt sich unter seinem echten Namen Andreas Huckele der Öffentlichkeit. An diesem Montag wird er in München für sein Buch
mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Im Interview spricht der 43 Jahre alte Gymnasiallehrer über seine Erleichterung, jetzt als er selbst auftreten zu können, und sagt, dass er Deutschland beim Thema Gewaltprävention an Schulen noch immer für ein Entwicklungsland hält.
Sie haben ihr Pseudonym aufgelöst und der Öffentlichkeit den Mann hinter Jürgen Dehmers gezeigt. Wie sind die Reaktionen ausgefallen?
Andreas Huckele: In einer deutschen Tageszeitung hat mich einmal jemand den "bekanntesten Unbekannten Deutschlands" genannt. Jetzt bin ich bekannt. Es gab durchweg positive Reaktionen, Glückwünsche und Respekt. Auch Leute, die ich lange nicht gesehen habe, haben mir geschrieben und gratuliert.
Wie geht es Ihnen damit, dass man nun weiß, Andreas Huckele und Jürgen Dehmers sind ein- und dieselbe Person?
Ich habe eine große Erleichterung empfunden, als ich mein Bild im "Spiegel" sah, und habe gedacht: Nun ist es endlich vorbei. Ich habe den Zeitpunkt bestimmt und auch bestimmt, wie es läuft. Ich habe Wert auf eine sachliche Darstellung gelegt. Ich mag kein Heldenepos und keinen Personenkult. Ich finde das alles völlig bescheuert. Es nützt niemandem, am wenigsten den Kindern, die eigentlich dringend darauf angewiesen sind, dass wir etwas tun, damit sie unversehrt bleiben.
Was würde den Kindern denn nutzen?
Es gibt für unsere Gesellschaft jetzt keinen Schritt mehr zurück hinter die Erkenntnis. Früher haben immer Leute sagen können: Das wusste ich alles nicht. Diese Zeiten sind vorbei. Jetzt wissen es alle. Dass allerdings jetzt die Parteien am Rande unserer Gesellschaft das Thema bedienen, ist beschämend für die bürgerliche Mitte. Ich bin nicht so der Weltretter-Typ, ich bin mehr der Vorgarten-Typ. Wir sollten uns nicht nur um die Probleme in fernen Ländern kümmern, sondern die Dinge in Ordnung bringen, die direkt vor unserer Haustür stattfinden. Es gibt hier so viel zu tun, es gibt Aufgaben ohne Ende. Wenn wir alle mithelfen, können wir tatsächlich etwas bewegen. Der Horror ist ja, dass es sich bei sexuellem Missbrauch nicht um Einzelfälle handelt, sondern dass er in der Gesellschaft verankert ist und überall in unserer Gesellschaft stattfindet. Die ganzen Gruppen, die in Deutschland erfolgreich für ihre Rechte gestritten haben – Frauen oder Homosexuelle – konnten das, weil sie erwachsen waren. Kinder brauchen Erwachsene, die sich für sie einsetzen.
Nach Ihren Enthüllungen über die Odenwaldschule gab es 2010 einen großen Aufschrei. Sie hatten die Geschichte aber schon zehn Jahre früher an die Öffentlichkeit gebracht – damals blieb der Skandal aus. Warum? Was war plötzlich anders?
Es gibt da sicher verschiedene Faktoren. Die Medienschaffenden haben das Thema transportiert und die Leute, die das transportiert haben, waren fast alle in meinem Alter. Es ist, als sei eine Generation von Journalisten abgetreten, die das Thema entweder bewusst verhindert oder einfach nicht erkannt hat. "Die Zeit ist reif" ist wohl die beste Antwort. Das Thema ist besprechbar geworden. Es gab früher Tabus, über die man nicht gesprochen hat, und das hat sich zum Glück verändert. Inzwischen gibt es die Erkenntnis, dass Kindern schlimme Sachen passieren und eine dieser Sachen sexuelle Gewalt ist. Jeder von uns kennt jemanden, der sexuelle Gewalt erlebt hat – ob wir es wissen oder nicht.
Lange haben Sie dafür gekämpft, dass Ihre Geschichte publik wird. Die FAZ hat sie 2011 zum „Mann des Jahres“ erklärt, jetzt bekommen Sie den Geschwister-Scholl-Preis. Es scheint, als hätten Sie laut genug geschrien. Hilft Ihnen das dabei, Ihre eigene Geschichte zu verarbeiten?
Was mir hilft, ist das Schreiben an sich. Schreiben klärt meine Gedanken und meine Gefühle. Und das Mitgefühl - nicht Mitleid, Mitleid ist grauenhaft – für dieses Kind, das ich mal war, unterstützt dieses Kind sicher dabei, gesund zu werden. Dadurch, dass meine Geschichte nun bekannt ist, konnte ich diese parallele Realität, die ich ja immer kannte, zu einer kollektiven Realität machen. Alle wussten es, keiner hat darüber gesprochen, und wir haben es jetzt zur kollektiven Wirklichkeit gemacht. Wir haben Realität generiert. Wenn ich meine alten Schulkameraden treffe, steht da nichts mehr zwischen uns. Trauma trennt, aber die Versprachlichung dessen, was man erlebt hat, schafft Nähe und führt zur Entmachtung der Täter. Es gibt natürlich auch Leute, die nicht darüber sprechen wollen. Jeder Betroffene muss selbst entscheiden, wie er mit dieser Scheiße umgeht. Diejenigen, die sich mit dem Thema konstruktiv auseinandersetzen, wirken auf mich allerdings entspannter.
Fühlen Sie sich inzwischen entspannt?
Es ist besser geworden, viel besser. Ich habe nicht mehr das Gefühl, dass da noch diese große Aufgabe ist, die ich bewältigen muss, weil niemand bereit ist, das anzupacken. Es werden immer mehr Menschen, die sich mit sexualisierter Gewalt auseinandersetzen, und das tut unserer Gesellschaft gut.
Welche Rolle hat Ihre Vergangenheit für den Entschluss gespielt, Lehrer zu werden?
Die Tatsache, dass ich Lehrer bin, hat für mich zwei Seiten. Ich arbeite gerne mit jungen Leuten, aber ich arbeite nicht gerne in diesen antiquierten Strukturen. Jeder weiß, dass man Schule besser machen kann, aber solche Entwicklungen vollziehen sich sehr langsam. Geduld ist nicht meine Stärke.
Haben Sie Strategien, Ihre Schüler oder auch Ihre eigenen Kinder so zu stärken, dass ihnen das, was Ihnen passiert ist, nicht widerfahren muss?
Ich drangsaliere meine Umwelt nicht mit diesem Thema. Kinder und Jugendliche spüren aber, ob man eine Position hat zu Gewalt, zu Macht, zu Sexualität. Ich habe die und ich formuliere sie auch. Wenn ich mit meinen Schülern über Gewalt und unzulässige Machtausübung spreche, dann kommen von denen oft Themen wie Guantanamo oder Abu Ghraib. Ich sage dann immer, dass das weit weg ist, und frage nach Alltagserlebnissen. Wo passiert es den Schülern, dass unzulässig Macht über sie ausgeübt wird, dass ihre Grundrechte verletzt werden. Meinen Kindern versuche ich einfach das Gefühl zu geben, dass sie alles mit mir besprechen können.
Tut Schule heute genug, um sexuelle Gewalt zu verhindern?
Es gibt Präventionskonzepte für Amokläufe - natürlich auch bei uns in Hessen. Ich sage nicht, es ist schlecht, das zu tun, aber ist es wirklich das, was am meisten drängt? Ein Gewaltpräventionsprojekt oder ein sexualpädagogisches Konzept aber gibt es an vielen Schulen nicht. Wenn ich dann frage, was die Schule mit ihren Gewalt-Opfern macht, dann heißt es: "Die haben wir nicht" - und das bei 1000 Schülern. Aber 20 Prozent aller Kinder haben sexuelle Gewalt erlebt. Das kann es doch irgendwie nicht sein. Wollen wir verbale sexuelle Gewalt dulden? Wollen wir dulden, wie junge Männer heute zum Teil mit jungen Frauen sprechen oder wie schwule Jungen gemobbt werden? Wollen wir es unbeachtet lassen, dass in jeder Klasse Kinder sind, die Vergewaltigungen erlebt haben? Diesen Fragen muss man sich als Schule schon stellen. Aber die Leute haben da keine Position zu. Was so etwas angeht, sind wir das totale Entwicklungsland.