Es geht mir besser, wenn ich russische Lieder singe
Der Bariton über seine Schuldgefühle gegenüber Mütterchen Heimat, die romantische Liedkunst und das postsowjetische Musikleben
Am Montag begeisterten sie die nicht unbeträchtliche Frankfurter Russen-Kolonie in der Alten Oper mit Schwermut, Weltekel, verlorener Liebe und unerfüllter Sehnsucht. Heute gastieren Dmitri Hvorostovsky und Jewgenij Kissin mit Liedern von Peter Tschaikowsky, Sergei Rachmaninow und Nikolai Medtner in der Philharmonie. Ihrer ersten Zusammenarbeit werden weitere Projekte folgen, vielleicht auch eine CD.
AZ: Herr Hvorostovsky, sind Sie schon nervös?
DMITRI HVOROSTOVSKY: Warum sollte ich? Kissin zählt für mich zu den besten Pianisten unserer Zeit. Ich kenne seine Aufnahmen und habe auch Konzerte von ihm besucht. Von dieser Erfahrung kann ich nur profitieren.
Aber er soll eigen sein, wenn er mit anderen musiziert.
Das kümmert mich nicht. Wenn er die besseren Argumente hat, werde ich meine Interpretation überdenken. Ich habe nichts zu verlieren. Die Zusammenarbeit mit ihm ist für jeden Musiker ein Höhepunkt in der Karriere. Ich denke, dass wir auf dem Podium gut auskommen werden – zumal ich weiß, dass ihm meine Art zu singen gefällt.
Warum sind die Lieder von Tschaikowsky, Medtner und Rachmaninow kaum bekannt?
Weil es einen Mangel an Sängern gibt, die sie singen – und überhaupt Lieder interpretieren. Seit Beginn meiner Karriere versuche ich mich gleichermaßen als Opern- und Konzertsänger zu etablieren, das tun nur wenige. Ich habe übrigens in München bereits Lieder von Tschaikowsky und Rachmaninow gesungen.
Liegt es nicht auch daran, dass einige Lieder recht einfach gestrickt sind?
Das sehe ich anders. In den Liedern von Tschaikowsky hören Sie die Geisteswelt seiner Sinfonien und Opern. Sie sind Experimentierfelder für seine großen Werke. Selbst im Dur ist das Drama präsent – der Schmerz, die Einsamkeit. Und Medtners Lieder sind erstaunlich: Die melodische Einzigartigkeit, die Tiefe des Ausdrucks – das ist große Musik. Für Pianisten ist der reiche Klavierpart ein Paradies. Leider haben wir, von Olga Borodina abgesehen, nicht sehr viele russische Liedinterpreten.
Warum ist das so?
Die Liedtradition ist in Russland zwar präsent, aber die meisten Sänger fühlen sich in dem Genre vielleicht nicht so wohl. Man steht alleine auf der Bühne, viele möchten die Bühne lieber teilen. Es gibt nur wenige, die an das Niveau der Borodina herankommen. Und schließlich setzen die meisten auf wirksame Opernkarrieren.
Warum ist Ihnen das russische Lied ein Anliegen?
Je weiter weg Sie als Russe von Russland leben, desto näher kommen Sie Russland. Ich fühle mich ständig schuldig. Es ist das Schuldgefühl der Mutter, das ist in unserem Blut. Man ist glücklich, alles strahlt vor Freude, und doch ist immer dieser Stachel. Das kann man mit niemandem teilen, das ist zutiefst russisch. Es geht mir besser, wenn ich russische Lieder singe.
Im russischen Klassikleben soll es kriseln. Stimmt das?
Da ist sicherlich etwas dran. Viel Geld fließt in die Popkultur, sie boomt und wird großzügig unterstützt. Die Klassik wird hingegen vernachlässigt. Dennoch sehe ich das nicht pessimistisch: Das Moskauer Bolschoi- und das St. Petersburger Mariinski-Theater sind nach wie bedeutend. Die großen Orchester werden von der Regierung unterstützt. Und dass an Klassik gespart wird, ist überall so. Vielleicht noch nicht in Deutschland, da gibt es ein einzigartiges Kulturleben. Ihr Glücklichen!
Marco Frei
Philharmonie, 9. Oktober, 20 Uhr. Karten an der Abendkasse