"Erwachsen auf Probe": Voyeuristisch und verantwortungslos
Eine Expertin vom Kinderschutzzentrum hat sich die Baby-Show für die AZ angesehen. Ihr Fazit: Die Kinder werden unötig Stress- und Angstsituationen ausgesetzt
Schlimm, dass ich das Baby getötet habe“, sagt Elvir. Der 17-Jährige hat in der Nacht das Baby mit seinem Körper überrollt. „Plötzlich hab’ ich was Hartes gespürt.“ Ein Glück, dass das Kind ein Dummy ist, eine computeranimierte Puppe, die wie ein echtes Baby gewickelt und gefüttert werden will – und schreit.
„Beunruhigend auch, wie da Elvir reagiert hat“, sagt Diplom-Psychologin Carmen Osten, stellvertretende Leiterin des Kinderschutzzentrums in München. Sie hat sich für die AZ gestern die erste Folge der umstrittenen RTL-Reihe „Erwachsen auf Probe“ angesehen. Elvir lässt das Baby im Korb liegen, schüttelt es ein bisschen. Das war’s. „So kann man ein Baby nicht beruhigen“, sagt Osten. Sie macht sich Sorgen, wie die Teenager dann tatsächlich mit den Kindern umgehen werden.
In der ersten Folge werden die vier Teeniepaare auf ihre Elternzeit vorbereitet, mit falschem Babybauch und falschem Baby. Und sie zeigen bereits da, wie extrem überfordert sie sind. „Alle haben eine ganz geringe Frustrationsbereitschaft“, sagt Osten, „überhaupt kein Konfliktlösungspotenzial.“ Ihr Urteil: Sie sind der Aufgabe in keiner Weise gewachsen. „Raucht man jetzt noch eine, können wir auf die Fete“ – das sind Fragen, die die Teenies beschäftigen.
",Erwachsen auf Probe' zielt allein auf Voyeurismus und Quoten"
„Diese Kids würde ich nicht einmal zum Babysitten engagieren“, sagt Osten. „Das RTL-Experiment kommt mir künstlich vor, zielt allein auf Voyeurismus und Quoten.“ Der Sender hatte immer wieder betont, die Reihe sei eine einzigartige Möglichkeit für die Jugendlichen, Familienkompetenz zu erlernen. „Ich finde es schlimm, dass so ein ernsthaftes Thema auf einem derartigen Big-Brother-Niveau abgehandelt wird“, sagt dagegen Osten. „Fast alle der Jugendlichen kommen aus zerrütteten Familien, es fällt auf, dass RTL hier selektiv ausgesucht hat. Auf diese Weise bagatellisiert man dieses wichtige Thema – Kinder bekommen Kinder. Und das ist verantwortungslos.“ Wolle man die Kids tatsächlich elterntauglich machen, bräuchte man viel längeres Coaching, so die Expertin. „Nach zwei Jahren wären sie dann vielleicht so weit.“
Unter den gegebenen Voraussetzungen kann einem tatsächlich bange werden. Das wurde es anscheinend auch dem Sender. Denn Elvir und seine Freundin Nadine (17) bekommen erst mal kein Baby. Allerdings müssen sie nur einen Tag warten, dann kommt Zoé-Marie, 14 Monate alt.
Die anderen drei Paare aber haben plötzlich Verantwortung für ein echtes Leben. Die 17-jährige Tamara und der 18-jährige Basti bekommen den zehn Monate alten Lasse ausgehändigt – unter Aufsicht von Fachkräften, wie in der Sendung immer wieder betont wird. „Aber egal wie viele Fachkräfte da im Hintergrund herumhüpfen, ein Baby lässt sich nur von der Mutter beruhigen. Von Fremden lassen sich Kinder in dem Alter in der Regel nicht trösten“, sagt Osten. Das zeigt sich prompt, Lasse will sich partout nicht wickeln lassen und schreit. Die Jugendlichen sind extrem überfordert. Osten: „Das ist für das Kind eine unnötige Aussetzung einer Stress- und Angstsituation.“
Politiker, Verbände und Kirchenvertreter hatten im Vorfeld alles versucht, um die Ausstrahlung zu verhindern. Die Verwaltungsgerichte Köln und Hannover entschieden: RTL darf die Baby-Verleih-Soap zeigen. Die Begründung klingt fast zynisch: Da die Sendung schon abgedreht sei und man den Kindern sowieso nicht mehr helfen könne, falle der Sachverhalt nicht in ihren Bereich. Die Landesmedienanstalt will die Sendung heute einem Eilverfahren unterziehen.
Angelika Kahl
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